Das verschlossene Zimmer
Als ich ein kleiner Junge war, verbrachte ich die Wochenenden oft bei meiner Großmutter.
Sie hatte ein großes Haus, in dem ich die aufregendsten Sachen erlebte. Zumindest das, was man als Kind unter aufregend versteht.
Ich ging im Keller, der nach Moder und Kartoffeln roch, auf Schatzsuche. Ich kratzte an den alten Backsteinen, um Geheimtüren ausfindig zu machen oder wühlte in dem fest getrampelten Lehmboden nach rostigen Truhen. Selbst das hochheilige Schwören meiner Großmutter konnte mich nicht von der Überzeugung abbringen, dass dieses Haus einen Schatz verbarg.
Ich setzte mich mit meinen Comic-Heften in die kleine Vorratskammer neben der Küche, weil ich in meinem bis dato kurzen Leben nie einen Ort gefunden hatte, an dem ich mich so geborgen fühlte. Ich konnte meine Großmutter nebenan mit den Töpfen klappern hören, während ich in einem Duft aus Äpfeln, Gewürzen und Zwiebeln mit Donald auf Abenteuerfahrt ging.
Ich rutschte das Treppengeländer herunter oder fuhr in den großen Räumen auf dem alten Parkett Rollschuh.
Meine Oma tolerierte alles. Ihr Haus war mein Abenteuerspielplatz.
Nur ein Raum auf dem Dachboden, der war stets verschlossen, und sie öffnete ihn nie in meiner Gegenwart.
Gelegentlich suchte ich in ihren Schränken heimlich nach dem Schlüssel, aber ich fand ihn nie.
Manchmal saß ich auch einfach nur vor der Tür, an einem Apfel aus der Vorratskammer knabbernd, und überlegte mir, was sich wohl dahinter verbarg. Meiner kindlichen Phantasie waren dabei keine Grenzen gesetzt.
"Was ist hinter dieser Tür?", fragte ich hin und wieder meine Großmutter und ihre Antwort fiel jedes Mal gleich aus: "Irgendwann, wenn Zeit dazu ist, zeige ich es dir."
Jedes Mal, wenn sie mit einem Schlüssel hantierte, sah ich dann erwartungsvoll zu ihr auf. Doch die Zeit verging, ohne dass sie mich hinter die Tür blicken ließ.
Es wurde nie Zeit dazu.
Stattdessen verging sie, und mittlerweile sah ich auf meine Oma hinab anstatt zu ihr auf.
Ihr Rücken war krumm geworden und ihre Augen trüb.
Manchmal stellte ich mir und ihr noch die Frage, was sich hinter der verschlossenen Tür verbarg, aber es wurde seltener.
Es war an einem regnerischen Sonntag, als meine Großmutter nach dem Mittagessen plötzlich aufstand und mir sagte, dass nun Zeit dazu sei, mir das Zimmer hinter der verschlossenen Tür zu zeigen.
Überrascht ließ ich den Löffel in mein Eis fallen und folgte ihr.
Ich werde nie dieses Gefühl vergessen, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte und die Tür sich leise knarrend öffnete.
Ein Geruch aus Farbe, trockenem Holz und verstrichener Zeit schlug mit entgegen.
Der Raum war sehr groß und hoch. Ich konnte direkt unter das Dach schauen, auf dem der Regen monoton in die Stille hinein trommelte.
Dämmriges Licht fiel durch zwei Dachfenster auf den staubigen Boden.
Ich staunte.
An den hohen Wänden hingen unzählige Bilder und die, die offenbar nicht mehr an die Wände gepasst hatten, standen zu Stapeln aufgetürmt herum, so dass nur noch schmale Schneisen zum Laufen blieben.
Ich hatte noch nie so viele Bilder gesehen .
Manche waren bunt und manche so trist wie das Wetter außerhalb dieser Mauern.
In der Mitte des Raumes stand eine große Staffelei, und in einer Ecke entdeckte ich ein Sammelsurium an Farben. In Tuben und Dosen wartete offenbar eine Fülle an Buntheit.
"Was ist das für ein Raum, Oma?", fragte ich.
"In diesem Raum male ich mein Leben", antwortete sie und lächelte.
Sie ging durch den Raum und strich über die Keilrahmen.
"Jeder Tag ist wie ein weißer Keilrahmen: unberührt. Ich bemale sie mit den Farben, die man Leben nennt. Manchmal sind sie bunt und fröhlich, manchmal grau und traurig und an anderen Tagen sind sie beides. Aber jedes ist einzigartig und ich bin um jedes Bild froh und dankbar, dass ich es malen durfte, auch wenn manche von ihnen auf den ersten Blick nicht schön erscheinen."
Sie sah mich an.
"Es ist immer wichtig, dass dein Herz die Farben aussucht, nicht der Verstand. Dein Verstand darf am Motiv mitarbeiten, aber die Farben sucht nur das Herz aus, verstehst du?"
Ich nickte, verstand nicht, aber versuchte mir zu merken, was sie sagte, weil ich ahnte, dass es wichtig war, diese Worte gut in mir aufzubewahren.
Sie zeigte auf ein fast schwarzes Bild, auf dem nur ein kleiner heller Punkt zu sehen war.
"Dieses hier habe ich an dem Tag gemalt, als ich ahnte, dass dein Großvater stirbt."
Sie ging weiter zu einer Leinwand, von der einem das Orange und Gelb förmlich entgegen sprang.
"Und dieses hier entstand an dem Tag, als deine Mutter mich anrief und sagte, dass sie ins Krankenhaus fährt, um dich zur Welt zu bringen."
Sie lächelte.
"Aber Oma", sagte ich, "Ich sehe hier keine unbemalten Keilrahmen mehr. Wo bewahrst du die auf?"
"Es gibt für mich keine unbemalten Keilrahmen mehr.", sagte sie.
Dann nahm sie meine Hand, öffnete sie und legte den Schlüssel hinein.
"Ich habe mein Leben gemalt. Jetzt wird es Zeit, dass du beginnst, deines zu malen."
Sanft streichelte sie über meine Wange, und der Regen trommelte monoton auf das Dach.
von Onkel Fenster