Re: Terror in der Nachbarschaft
Verprügelt, vergewaltigt und gefilmt
Von Güner Balci und Anna Reimann
Prügeln allein reicht nicht mehr. Jugendliche filmen Gewalt - immer öfter auch sexuelle Übergriffe - mit ihren Handys. Mädchen, die ihre Opfer werden, haben oft keine andere Chance, als aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, wenn sie den letzten Rest ihrer "Ehre" retten wollen.
Berlin - Was Yasemin* in dem verwackelten Film auf dem Display von Mohammeds* Handy gesehen hat, würde sie am liebsten schnell wieder vergessen: Die Bilder, wie ein Mädchen von drei Jugendlichen in einem Berliner Park ins Gebüsch gezogen wird. "Das Mädchen, Sarah*, liegt am Boden, die Jungs schlagen auf sie ein. Erst wehrt sie sich noch und schreit um Hilfe", sagt die 16-Jährige.
Dann habe das Mädchen nichts mehr gesagt. Kein Ton mehr von ihr, während die Fäuste der Jungs auf sie einprasseln, bis sie am Boden liegt. Und dann sei in dem Film zu sehen gewesen, wie die Jugendlichen auf das Mädchen urinierten. "Immer wieder haben sie zugeschlagen", sagt Yasemin, die in einem Berliner Jugendtreff sitzt und über die grausamen Videos erzählt, die viele Jungs aus ihrer Clique in letzter Zeit auf ihren Handys haben.
Nicht alle aber haben mitgeprügelt, erzählt Yasemin. Denn einer der Jungs hatte eine andere Aufgabe: "Er stand daneben und hat gefilmt." Er habe die Hilferufe und die dumpfen Geräusche der Schläge aufgenommen und dokumentiert wie die Jungs schließlich triumphierend abziehen. "Am Anfang waren es 'normale' Schlägereien. Mittlerweile denken sich die Jugendlichen richtige Drehbücher aus, nach denen ihr Überfall ablaufen soll. Angelehnt an Gewaltfilme", sagt Markus M.*, Jugendarbeiter aus Berlin Kreuzberg.
Mohammed hat eine einfache Erklärung dafür, warum Sarah Schläge bekam und dabei gefilmt wurde: "Die ist eine Schlampe!" Und wer eine "Schlampe" sei, der habe es nicht anders verdient. So einfach ist das für viele, die sich mit Gewaltvideos, auf denen sie Mädchen quälen, in der Rangordnung ihrer Clique nach oben katapultieren wollen. "Meist sind es deutsche Mädchen die Opfer von Gewalt werden - bei türkischen oder arabischen trauen sich die Jugendlichen oft nicht so weit", sagt Markus M.
Keine Regeln, keine Grenzen
Prügelszenen mit dem Handy zu filmen, ist "Trend" unter vielen Jugendlichen aus den sozial schwachen Bezirken der Großstädte. "Die Praxis kommt aus England. Seit etwa einem Jahr kommt das auch in Berlin häufiger vor", sagt der Leiter des Berliner Jugendzentrums "Naunyn-Ritze", Martin Kesting zu SPIEGEL ONLINE.
Polizeibekannt ist das Phänomen der Gewaltvideos erst seit einigen Monaten, sagt Ute Kadow vom BKA. "Uns werden die Filme wenn überhaupt in Verbindung mit einer Anzeige wegen Körperverletzung bekannt."
Die jugendlichen Täter verkörpern schon äußerlich meist den Stereotyp eines Ghetto-Jugendlichen. Ihre Uniform: Blusonjacken von Markenherstellern, die ihr Kreuz breiter erscheinen lassen, taillierte Jeans im Karottenschnitt, teure Sportschuhe und neuerdings schneeweiße Leder-Espandrillos. Ihre Sprache: Ein Slang aus Deutsch-arabisch-türkisch. Deutsche sind dabei eher die Mitläufer.
Ausgestattet mit ihren Handy-Kameras ziehen sie durch die Straßen auf der Suche nach immer neuen Motiven: Ein Angetrunkener, dem man mit einem schweren Tritt ins Gesicht die Nase zertrümmert, ein Straßenkampf, bei dem sechs Jugendliche einen am Boden Liegenden in sämtliche Körperteile treten, ein Mädchen das vor laufender Kamera geschlagen und verbal erniedrigt wird, Pornographie und Tierquälereien - es gibt keine Grenzen in der Darstellung menschlichen und tierischen Leidens. All das haben Berliner Jugendliche ihren Betreuern - Sozialarbeitern oder Leitern von Jugendzentren - gezeigt.
Erwachsenen gegenüber rücken nur die Jugendlichen Videos raus, die nichts damit zu tun haben wollen und auf Hilfe hoffen. Die Anderen, die selber filmen und verschicken, geben nichts preis. "Wenn wir irgendwas aufdecken wollten, müssten wir alle Handys konfiszieren. Aber dann wären unsere Jugendtreffs leer", sagt der Neuköllner Bezirksstadtrat Thomas Blesing (SPD) zu SPIEGEL ONLINE
Für die Jugendlichen ist das Handy ihre Waffe, um einen Gegner zu denunzieren und zu erpressen. Es gibt keine Mann-gegen-Mann-Kämpfe mehr, es gibt keine Regeln und demnach keine Hemmungen. Video-Aufnahmen werden an Freunde verschickt. Die Opfer werden bald von Hunderten von Jugendlichen erkannt - denn alle haben sie auf ihren Handys. Erniedrigt und gequält. Gesammelt wie eine Trophäe. Die Inszenierung realen Leidens von Menschen, zu denen oft ein persönlicher Bezug hergestellt werden kann. Neu ist auch, dass immer mehr sexuelle Übergriffe mit dem Handy festgehalten werden - wie in dem Fall eines Mädchens aus Berlin Jungfernheide: Vier Schüler einer Oberschule, zwischen 13 und 15 Jahren, sollen die 16-Jährige vergewaltigt und die Tat mit einer Handykamera gefilmt und dann verschickt haben.
"Auch im Grundschulalter haben die Kinder schon solche Videos auf ihren Handys", so Blesing. Zum Teil würden die Filme ungefragt versendet und dann wundere man sich plötzlich: "Wo kommt das jetzt her?". Früher hätten sich Jugendliche Musik runtergeladen oder heimlich eine Pornozeitung gekauft. Der neue Reiz, sei nun diese Form von Gewaltvideo zu besitzen, sagt der Bezirksstadtrat.
Das "Opfer" wird zunächst in ein Gespräch verwickelt
Das Drehbuch der Gewaltfilme ist meist einfach: Das "Opfer", wie Gegner, Feinde, Andersdenkende im Straßenslang heißen, wird in ein Gespräch verwickelt, nach banalen Dingen wie der Uhrzeit oder einer Zigarette gefragt. Kaum lässt es sich auf eine Diskussion ein, bekommt es einen Schlag ins Gesicht. Entzieht sich das Opfer dem Gespräch, wird es von hinten attackiert. So oder so, es gibt kein Entrinnen.
Aber nicht immer findet die Gewalt so öffentlich statt. "Für die ganz besonderen Aufnahmen geht man in geschlossene Räume", erzählt Aishe* aus Neukölln.
Wie im Fall von Hamide* aus Kreuzberg: Die 15-Jährige wird von ihrem Freund in einen Keller gelockt. Er wolle mit ihr in Ruhe über ihre Beziehung reden, sagt er. Hamide tappt in die Falle: Ihr "Freund" schlägt sie zusammen, tritt sie. Und Hamide kennen bald viele. Denn die Sache bleibt nicht unter vier Augen. Der Täter hat die auf dem Boden kauernde 15-Jährige gefilmt. Mehrere hundert Jugendliche haben das Video nun auf ihrem Handy.
Die Mädchen, die in einem Berliner Jugendtreff auf dem Sofa sitzen, überbieten sich in ihren Schilderungen, wenn sie nach dem Schrecklichsten, das sie je auf einem Handy gesehen haben, gefragt werden. Sie erzählen von Fällen wie Sarah: Mädchen, die von mehreren Jungen brutal geschlagen und angepinkelt werden, von einer Truppe Jungen, die willkürlich auf Passanten einschlagen und nicht zuletzt von Sex-Szenen, die live von Jugendlichen gefilmt werden. Ist die Szene einmal im Handy, kann das Opfer jederzeit vorgeführt werden, eine Folter in Endlosschleife.
Vor einigen Jahren noch, sagt Leila*, hätten sich die Jungs erzählt, wie viele "Schlampen" sie schon im Bett hatten. "Heute zeigen sie den Film dazu." Schwierig werde es, wenn einer dieser Jungen keine "Schlampe" ins Bett kriege, wenn er nicht in der Lage ist, eine Frau zu bekommen. Dann könne es passieren, dass er sie ich mit Gewalt nimmt, um anschließend den Film zu zeigen und erzählen zu können, "guck mal, ich hab ihr Leben gefickt". All das sei Mädchen aus ihrem Umfeld schon passiert.
Wie kann man sich als Mädchen davor schützen, Opfer dieser Art von Übergriffen zu werden? "Alles was man machen kann, ist, seinen Ruf zu schützen. Nie händchenhaltend mit einem Jungen in der Öffentlichkeit gesehen werden", sagen die Mädchen. "Wer gefilmt worden ist, öffentlich angefasst von Jungen, der muss aus der Öffentlichkeit verschwinden und zu Hause bleiben. Wegen der Familie und der Ehre", sagen sie.
*Name geändert