Ehrenmord Allaks großer Schmerz
In der Türkei werden Ehrenmörder seit einem knappen Jahr hart bestraft - wenn man ihnen denn auf die Schliche kommt
Wenn ein Zuwanderer in Deutschland ein Verbrechen begeht, überlegen die deutschen Beamten gern schon mal, ob sie ihn nicht schleunigst abschieben können. Und wer würde nicht am liebsten die kurdische Familie Sürücü, die den Mord an ihrer Tochter Hatun womöglich gemeinschaftlich geplant hat, zurück in die Türkei verfrachten? Ob solche Wünsche erfüllbar sind, da freilich sind deutsche Gesetze und Gerichte vor. In der Türkei würden viele mit Ehrenmördern gern dasselbe machen: abschieben, ausweisen, nur fort mit ihnen. Geht aber nicht. Denn Kurden wie die Sürücüs sind türkische Staatsbürger. Und ihre Heimat im fernen Südostanatolien liegt nun einmal in der Türkei.
Südostanatolien - dieser vom Schicksal wenig verwöhnte Landstrich liegt eingeschlossen zwischen dem Irak, Iran, hohen Bergen und arg verkrusteten Vorstellungen von Ehre und Mannhaftigkeit. Die meisten in der Türkei verübten Ehrenmorde, rund fünfzig pro Jahr, werden in den überwiegend kurdisch besiedelten Städten und Dörfern um Diyarbakir und jenseits davon verübt. Hier haben die Männer in mindestens jeder zehnten Ehe eine zweite Frau. Hier glauben nach einer Umfrage des Frauenzentrums Ka-Mer mehr als drei Viertel der Männer, dass die Verletzung der Familienehre, von der Frau verschuldet, bestraft werden müsse. Und ein Drittel von ihnen meint damit die Tötung der Frau. So haben auch ihre Väter gedacht, ihre Großväter und Urahnen, seit Jahrhunderten.
Doch außerhalb der Köpfe dieser Männer hat sich die Welt verändert. Die türkische Gesellschaft schaut anders als früher nicht mehr an den Ehrenmorden vorbei. Und die Annäherung der Türkei an die EU zwingt die türkischen Behörden neuerdings, mit diesen Verbrechen anders umzugehen als ehedem.
Es war ein Theaterstück, das vor drei Jahren die Öffentlichkeit aufrüttelte. Auf einer Bühne in Diyarbakir wurde die wahre Geschichte von Allak und Acil nacherzählt. Der 55-jährige vierfache Familienvater Acil hatte die 35-jährige Allak vergewaltigt. Wenige Monate später konnte Allak ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen. Der Familienrat tagte und beschloss, sie ihrem Vergewaltiger als Zweitfrau aufzuzwängen. Acil ließ sich breitschlagen, doch nach kurzer Zeit jagte er Allak zu ihrer Familie zurück. Deren »Ehre«, so empfand es der Familienrat, war nun zweifach besudelt. Deshalb sollten beide sterben. Die erwachsenen Männer der Familie zerrten Allak und Acil zu einer Wasserstelle außerhalb des Dorfs. Dort wurden sie wie in schlechter alter Zeit gesteinigt. Diese Geschichte ereignete sich im Jahr 2002.
Das Theaterstück
Kleiner Schmerz ging 2003 durch die Medien der Türkei. Entsetzen über die Ehrenmorde machte sich breit - Journalisten kritisierten die lauen Gesetze gegen »Ehrenmörder«. Denn das alte Strafgesetzbuch der Türkei behandelte die Tötung eines Familienangehörigen - aus welchen Motiven auch immer - nicht mit der gleichen Härte wie einen Mord. Das ärgerte nicht nur Journalisten. Die Europäische Union forderte von Ankara, für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen solche und ähnliche Gesetze von Vorvorgestern rasch abzuschaffen. Das türkische Parlament verabschiedete ein Jahr später ein neues Strafgesetzbuch.
Seit Sommer vergangenen Jahres nun werden diese Familienverbrechen mit der gleichen Härte bestraft wie der gemeine Mord. Deshalb erstaunt es nun viele Türken, dass die Ehrenmord-Patriarchen der Familie Sürücü in Deutschland wegen Mangels an Beweisen freikommen, während nur der minderjährige Täter ins Gefängnis muss. Warum lassen die Deutschen Milde walten, wo sie vorher von den Türken Härte verlangten? Die Antwort heißt Rechtsstaat: Ohne Beweis oder zwingende Indizien kann eben niemand verurteilt werden. Genau darauf berufen sich neuerdings auch türkische Kurden, die von der Polizei oder den Behörden geschurigelt werden. Ob beim Familienrecht, beim Strafrecht, bei den Menschenrechten - Kurden haben einklagbare Rechte. Deshalb darf sich der Staat auch nicht in archaisch organisierte Familien einmischen, solange diese nicht nachweisbar gegen das Recht verstoßen. Ehrenmörder werden hart bestraft - wenn man ihnen auf die Schliche kommt.
Doch kann keine Strafe die eigentlichen Ursachen aus der Welt schaffen. Und die haben, folgt man der Frauenorganisation Ka-Mer, nichts mit dem Islam oder »den Kurden an sich« zu tun. Die Ursache heiße Rückständigkeit. In einer Gegend, die seit 20 Jahren kaum etwas anderes als Krieg kurdischer Extremisten gegen die türkische Armee und eine Dauerwirtschaftskrise kennt, dürfe man sich über die Flucht in vormoderne Lebensformen und Gewalt nicht wundern.
Der wirtschaftlich blühende Westen der Türkei zeigt, wie es gehen könnte: Wenn Vater in der Software-Firma arbeitet, Mutter halbtags in der Bankfiliale jobbt, Tochter und Sohn in Istanbul studieren, dann fällt der Familienrat zum Zweck sozialer Überwachung schon allein wegen Zeitmangels aus.
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