Vor 50 Jahren zerstörte ein Pogrom das alte Konstantinopel
Breite Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit über die Gewaltorgie im September 1955,die den Massenexodus der griechischen Minderheit provozierte - "Es war wie die Kristall-nacht der Nazis"
Istanbul, 5.9.05 (KAP) Vor 50 Jahren, in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955, begannen in der Türkei antigriechische Pogrome, die dazu führten, dass nahezu 100.000 Angehörige der Minderheit das Land verließen. Ausgelöst wurden die blutigen Ausschreitungen mit Dutzenden von Todesopfern in Istanbul und Izmir vordergründig durch den Zypern-Konflikt. Die mit Wirtschaftsproblemen kämpfende korrupte Regierung des Ministerpräsidenten Adnan Menderes brauchte auch Sündenböcke, die sie in den griechisch sprechenden Bewohnern der Konstantinsstadt gefunden haben meinte. Die Pogrome werden jetzt in der Türkei - auch im Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der EU - einer breiten öffentlichen Diskussion unterzogen.
Ein fanatisierter Mob setzte in Istanbul 72 orthodoxe Kirchen und mehr als 30 Schulen in Brand, schändete christliche Friedhöfe und verwüstete rund 3.500 Wohnhäuser und mehr als 4.000 Geschäfte. Die Istiqlal Caddesi, die Prachtstraße im Herzen von Istanbul (immer noch eines der schönsten Gründerzeit-Ensembles Europas), sah wie ein Schlachtfeld aus. Der Vali (Gouverneur) von Istanbul ging auf Tauchstation, die Polizei sah untätig zu, wie geplündert, vergewaltigt und zu Tode gequält wurde. Der Ökumenische Patriarch Athenagoras I., das Oberhaupt der orthodoxen Christenheit, harrte im belagerten, aber nicht gestürmten Phanar aus. Er konnte darauf verweisen, dass auch der osmanische Eroberer Konstantinopels, Sultan Mehmed Fatih, das Patriarchat nicht angetastet hatte, im Gegen-teil. Die diplomatischen Proteste des "Westens", der auf seine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion fixiert war, hielten sich in bescheidenen Grenzen.
Der prominente Autor Orhan Pamuk, gegen den die Staatsanwaltschaft in Istanbul kürzlich allen Ernstes Anklage wegen "öffentlicher Herabsetzung des Türkentums" erhoben hat, schildert die blinde Zerstörungswut in seinen Jugenderinnerungen. Der 1995 verstorbene berühmte Schriftsteller und Dramatiker Aziz Nesin sprach von "Menschen, die Monster wurden". Im September 1955 starb das alte Konstantinopel, das auch unter osmanischer Herrschaft immer eine der Hauptstädte der Christenheit, ein Ort der Begegnung der Kulturen, geblieben war. Die Wunden von vor 50 Jahren sind noch immer offen; etliche der damals geschändeten orthodoxen Kirchen sind nach wie vor Ruinen. Nach dem September 1955 war am Goldenen Horn nichts mehr so, wie es zuvor gewesen war.
Wegen der strategischen Bedeutung der Türkei im Kalten Krieg drückten die USA beide Augen zu, Griechenland stellte aus Protest vorübergehend die Mitarbeit in der NATO ein. Großbritannien, damals noch Kolonialmacht auf Zypern, optierte klar für Ankara (1956 deportierten die Briten den Ethnarchen, den Führer der griechischen Zyprioten, Erzbischof Makarios, auf die Seychellen. Er sollte 1960 der erste Präsident von Zypern werden).
Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich