Nach der Flutkatastrophe: Retten, was noch zu retten ist
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms kehren die Menschen langsam zurück. Nach mehr als acht Monaten unter russischer Besatzung wissen viele im Katastrophengebiet nicht mehr, wie es weitergeht
REPORTAGE: Daniela Prugger aus Afanassijiwka und Cherson
Vorsichtig nimmt Leonid Bidnitschenko die Lupe in die Hand, die er normalerweise verwendet, um sein Kreuzworträtsel zu lösen oder die Zeitung zu lesen. Er legt sie ordentlich auf den Tisch, neben den Kugelschreiber, neben die Brillenetuis mit den Lesebrillen, neben die Tischuhr. Dann setzt sich der 83-Jährige in Baseballcap und übergroßem T-Shirt, das er von einer Hilfsorganisation bekommen hat, langsam auf den Stuhl und atmet aus. Er sagt nichts, blickt nur fassungslos um sich, auf den Schlamm, der auf dem Fußboden liegt, die nassen Pölster und Decken auf dem Sofa, das aufgeweichte Papier der Tapete. Sein Haus war sein ganzes Leben. Und erst jetzt, da das Wasser nach der Flut langsam zurückgeht, werden die Schäden sichtbar.
Im Nebenzimmer hält sich seine Ehefrau Lydiya, Kopftuch, blaues Kleid mit Blumenmuster, die Hände vor den Mund, als sie den Kleiderschrank öffnet, aus dem das Wasser tropft. Es riecht modrig, es riecht nach See. Hier drinnen werden die beiden so bald nicht schlafen können, sondern, wie so viele andere Betroffene auch, bei Verwandten unterkommen. Das Ehepaar Bidnitschenko hat sein ganzes Leben im Dorf Afanassijiwka verbracht, 41 Kilometer nördlich der Stadt Cherson, in der Oblast Mykolajiw. Vor der Flut war die Ortschaft fast vollständig vom Inhulez umgeben, einem Nebenfluss des Dnjepr. Nachdem etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Afanassijiwka der große Kachowka-Staudamm zerstört worden war, überfluteten Wassermassen riesige Gebiete, wo Zehntausende Menschen leben. Auch der viel kleinere Nebenfluss Inhulez lief über die Ufer. In Afanassijiwka saßen die Einheimischen zuerst wie auf einer Insel fest, wurden dann evakuiert und in andere Dörfer gebracht.
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms kehren die Menschen langsam zurück. Nach mehr als acht Monaten unter russischer Besatzung wissen viele im Katastrophengebiet nicht mehr, wie es weitergeht
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