War der Holodomor ein Genozid?
Anders als viele Parlamente hat der österreichische Nationalrat den stalinistischen Hungermord 1932 bis 1933 in der Ukraine nicht als Genozid anerkannt. Was dagegen spricht und was dafür
Ein Vierteljahrhundert nach Srebrenica hat der russische Überfall auf die Ukraine das Thema Genozid in Europa wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Zwar fanden internationale Organisationen keine Anzeichen für den von Russland behaupteten Genozid an der russischsprachigen Volksgruppe der Ukraine. Dafür gibt der Krieg samt Kriegsverbrechen, Verschleppung von Kindern und genozidaler Hetzpropaganda laut einer Studie des Raoul Wallenberg Centre for Human Rights Grund zur Annahme von Völkermord. Die Parlamente Kanadas, Irlands, Polens und der baltischen Staaten sehen dies ebenso, andere Staaten sind vorsichtiger.
Neue Dynamik
Ferner hat der Krieg eine neue Dynamik zur Anerkennung des Holodomors ("Tod durch Hunger") als Genozid generiert. Er ist Teil einer von Stalins Zwangskollektivierung ausgelösten Hungersnot mit acht bis neun Millionen Toten, davon etwa vier Millionen in der Ukraine, drei Millionen in stark ukrainisch und deutsch besiedelten Gebieten Russlands, 1,5 Millionen in Kasachstan. Besonders betroffen waren Kinder.
Bereits 1953 forderte Raphael Lemkin, polnisch-jüdischer Jurist aus Lemberg und Schöpfer des Begriffes "Genozid", den Holodomor als solchen anzuerkennen. Die von ihm angeregte UN-Konvention vom Dezember 1948 nennt den Genozid eine Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Seine Formen sind die Tötung von Mitgliedern der Gruppe; die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden an ihnen; die Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen; Maßnahmen zur Geburtenverhinderung in der Gruppe; die Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere. Genozid bedeutet somit nicht, dass eine Tötung aller Mitglieder der Gruppe beabsichtigt oder vollzogen werden muss, um den Tatbestand zu erfüllen. Es genügt, einen Teil der Gruppe zu töten und den Rest seiner Gruppenidentität zu berauben. Zu bestrafen ist laut UN-Konvention nicht nur die Begehung von Genozid, sondern auch dessen Propaganda oder Versuch.
Anders als viele Parlamente hat der österreichische Nationalrat den stalinistischen Hungermord 1932 bis 1933 in der Ukraine nicht als Genozid anerkannt. Was dagegen spricht und was dafür
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