Von einem Ursprung der Montenegriner kann man so nicht sprechen. Alle Völker Balkans standen stets im engen Kontakt miteinander, insbesondere mit ihren unmittelbaren Nachbarn. An der Ethnogenese der heutigen Montenegriner haben somit auch ihre Nachbarn teilgenommen. Familien und Individuen sind jahrhundertelang von einem Land ins andere gezogen, lebten in multiethnischen Ehen und wurden assimiliert. Wenn man die Frage aufstellt, mit wem die Montenegriner "genetisch" gesehen die meisten Gemeinsamkeiten teilen, sind das wohl die Hercegovci. Abgesehen davon, dass die Hälfte Montenegros einst als Stara Hercegovina bekannt war, ist bei beiden Populationen der vlachische (oder walachische) Anteil sehr hoch. Akzeptiert man die Theorie, dass die Vlachen Nachfahren der zuerst romanisierten, dann slawisierten Vorbevölkerung Balkans sind, ist der altbalkanische Anteil bei den Montenegrinern höher als bei anderen Südslawen. Hier muss man aber weiterhin vorsichtig bleiben. Noch ist nicht ganz klar, ob es sich bei den (ost)herzegowinischen Vlachen um eine, mit anderen romanischsprachigen Vlachen verwandte, Ethnie handelt. Andere sehen in ihnen einfach nur Slawen, die eine besondere Art Wirtschaft betrieben haben, nämlich die Transhumanz.
Die jeweilige Identität der heutigen Nationalitäten am Balkan wurde erst im 19. Jahrhundert, der Epoche des romantischen Nationalismus, erdichtet. Was die montenegrinische Identität betrifft, ging sie aus der modernen serbischen Nationalbewegung hervor. Die Tatsache, dass sich ein Teil der Montenegriner als eigene Volksgruppe sieht, zeugt davon, dass der Prozess der Nationswerdung am Balkan anscheinend noch nicht abgeschlossen ist. Nationen werden von Eliten konstruiert. Ihre Beschaffenheit entspricht den Interessen dieser Eliten. Die Herrschenden in Montenegro wollen kein Anhängsel Serbiens sein. Nach der territorialen folgt nun die kulturelle und nationale Abspaltung.