Leverkusen98
legend...
Alle reden über Deutsche, niemand mehr über Kriminelle vom Balkan. Sind die Ex-Jugoslawen plötzlich integriert?
Seit einigen Monaten leistet sich die Schweiz eine Debatte, die nicht gerade von Selbstvertrauen zeugt. Die Rede ist vom deutschen Filz an den Universitäten, vom demütigenden Reflex, beim Spitalbesuch Hochdeutsch zu sprechen, und von der deutschen Konkurrenz für Schweizer Männer bei der Brautschau. Sigmund Freud, als Österreicher in dieser Diskussion neutral, würde darin sein Diktum vom «Narzissmus der kleinen Differenzen» erkennen: Die Schweizer sind den Deutschen so ähnlich, dass sie geringe Unterschiede überbetonen, um sich abzugrenzen. Abstiegsangst und die damit verbundene vorsorgliche Missgunst werden auf die Deutschen projiziert: Sie seien zackig im Umgangston und geschliffen in der Sprache.
Die Debatte hat eine andere Ausländergruppe aus der Schusslinie genommen: die «Jugos». Mit der kriegsbedingten Ankunft in den 90er-Jahren sollen sie die Gewalt mitgebracht haben und hier an ihre Söhne vererben. Doch davon spricht heute kaum mehr jemand. Sind also die Deutschen die neuen Sündenböcke? Ist das Ansehen der «Jugos» gestiegen, weil die Deutschen jetzt die Unbeliebten sind?
Der Preis der Integration
Historisch gesehen, scheint das folgerichtig. In der jüngeren Schweizer Geschichte haben sich drei grosse Einwanderergruppen als Problemgruppe abgelöst: Die lustvolle Italianisierung der Schweiz durch Pasta, Pizza und Prosecco begann in den 80er-Jahren, als die Tamilen kamen – alle angeblich vom Staat mit teuren Lederjacken ausgerüstet. Vorher war «Tschingg» das Codewort für den faulen Italiener, der auch noch beim Fussballspielen simuliert. Wenn sich die Tochter in einen dunkeläugigen Sizilianer verliebte, kam es zur Familienkatastrophe.
Seit die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien hier sind, gelten Tamilen als fleissige und bescheidene Mitbürger: freundlich lächelnde Tellerwäscher in Restaurantküchen und liebenswürdige Hilfskräfte in Spitalwäschereien. Niemand würde sie heute als Messerstecher und Schmarotzer anprangern wie der «Blick» in den 80er-Jahren. Und keiner Gewerbeschulklasse käme es in den Sinn, am Grümpelturnier unter dem Namen «Tamilen-Killer» zu spielen, wie damals in Bern geschehen.
«Jugos» neu im Detailhandel
Nimmt man Coop zum Massstab, sind jetzt auch die Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien gern gesehen. Coop verkauft neuerdings vom Fladenbrot und Cevapcici über kroatisches Bier bis zur serbischen Variante von Nutella 90 Produkte aus dem Balkan. Das hat auch symbolischen Wert: Coop versteht sich als Inbegriff des Schweizertums: In den Werbekampagnen essen Tellenburschen einheimische Äpfel und spielen mit Heugabeln. Kurz – die «Jugos» wurden in den Detailhandel aufgenommen.
Auch im Sport ist der Balkan ein Teil der Schweiz geworden. Ohne die Söhne der Einwanderer aus Bosnien, Serbien und Kosovo wäre die Schweiz kaum Fussball-Weltmeister der U-17 geworden. Zudem tanzen Schweizer immer häufiger zu balkanischen Beats: Die monatlichen Konzerte ex-jugoslawischer Bands vor gemischtem Publikum in Zürich und die anschliessenden Partys sind überfüllt. Vielleicht ist diese Musik deshalb so beliebt, weil sie den Nerv der Zeit trifft: Fetzige Stücke wechseln sich mit traurigen Liedern ab. Tempo und Melancholie als Ausdruck unseres rasenden Stillstands.
Secondos in ihrer Schicht gefangen
Trotzdem ist das Ansehen der «Jugos» insgesamt nicht gestiegen. Ein Grund dafür ist die Kriminalitätsstatistik. Die meisten Menschen aus dem Balkan leben zwar unauffällig. Wegen einer Minderheit ist «Jugo» aber ein Synonym für Gewalt geblieben. Deshalb hat die Stellenbewerbung eines -ic bei gleicher Qualifikation gegenüber Schweizern eine geringere Chance.
Und der Erfolg der Fussballer täuscht darüber hinweg, dass viele Secondos nicht aus der sozialen Schicht herauskommen, in die sie hineingeboren wurden: Am häufigsten verlassen Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien die Schule ohne Abschluss. Viele arbeiten in Berufen mit geringen Anforderungen, wenige studieren an einer Uni.
Jedem sein Sündenbock
Hat die deutsche Zuwanderung also nichts verändert? Doch. Erstmals haben die neuen Immigranten die älteren nicht als Sündenböcke abgelöst, sondern ergänzt. Den Schweizer Mittelstand sprechen die Feinde der Fremden an, wenn sie die Ressentiments gegen Deutsche bewirtschaften. Dieser fühlt sich bedroht, weil ihm eine gut ausgebildete Konkurrenz erwächst. Gleichzeitig haben weniger gut situierte Schweizer mit den «Jugos» weiterhin ein Ventil für ihre Frustrationen.
Die Debatte über die Deutschen hat die Diskussion über «Jugos» nur in den Hintergrund gedrängt. Spätestens mit der SVP-Ausschaffungsinitiative von kriminellen Ausländern werden sie wieder im Mittelpunkt stehen. Und die Deutschen eine Pause bekommen.
Die «Jugos» haben Pause - Schweiz: Standard - bazonline.ch
Seit einigen Monaten leistet sich die Schweiz eine Debatte, die nicht gerade von Selbstvertrauen zeugt. Die Rede ist vom deutschen Filz an den Universitäten, vom demütigenden Reflex, beim Spitalbesuch Hochdeutsch zu sprechen, und von der deutschen Konkurrenz für Schweizer Männer bei der Brautschau. Sigmund Freud, als Österreicher in dieser Diskussion neutral, würde darin sein Diktum vom «Narzissmus der kleinen Differenzen» erkennen: Die Schweizer sind den Deutschen so ähnlich, dass sie geringe Unterschiede überbetonen, um sich abzugrenzen. Abstiegsangst und die damit verbundene vorsorgliche Missgunst werden auf die Deutschen projiziert: Sie seien zackig im Umgangston und geschliffen in der Sprache.
Die Debatte hat eine andere Ausländergruppe aus der Schusslinie genommen: die «Jugos». Mit der kriegsbedingten Ankunft in den 90er-Jahren sollen sie die Gewalt mitgebracht haben und hier an ihre Söhne vererben. Doch davon spricht heute kaum mehr jemand. Sind also die Deutschen die neuen Sündenböcke? Ist das Ansehen der «Jugos» gestiegen, weil die Deutschen jetzt die Unbeliebten sind?
Der Preis der Integration
Historisch gesehen, scheint das folgerichtig. In der jüngeren Schweizer Geschichte haben sich drei grosse Einwanderergruppen als Problemgruppe abgelöst: Die lustvolle Italianisierung der Schweiz durch Pasta, Pizza und Prosecco begann in den 80er-Jahren, als die Tamilen kamen – alle angeblich vom Staat mit teuren Lederjacken ausgerüstet. Vorher war «Tschingg» das Codewort für den faulen Italiener, der auch noch beim Fussballspielen simuliert. Wenn sich die Tochter in einen dunkeläugigen Sizilianer verliebte, kam es zur Familienkatastrophe.
Seit die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien hier sind, gelten Tamilen als fleissige und bescheidene Mitbürger: freundlich lächelnde Tellerwäscher in Restaurantküchen und liebenswürdige Hilfskräfte in Spitalwäschereien. Niemand würde sie heute als Messerstecher und Schmarotzer anprangern wie der «Blick» in den 80er-Jahren. Und keiner Gewerbeschulklasse käme es in den Sinn, am Grümpelturnier unter dem Namen «Tamilen-Killer» zu spielen, wie damals in Bern geschehen.
«Jugos» neu im Detailhandel
Nimmt man Coop zum Massstab, sind jetzt auch die Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien gern gesehen. Coop verkauft neuerdings vom Fladenbrot und Cevapcici über kroatisches Bier bis zur serbischen Variante von Nutella 90 Produkte aus dem Balkan. Das hat auch symbolischen Wert: Coop versteht sich als Inbegriff des Schweizertums: In den Werbekampagnen essen Tellenburschen einheimische Äpfel und spielen mit Heugabeln. Kurz – die «Jugos» wurden in den Detailhandel aufgenommen.
Auch im Sport ist der Balkan ein Teil der Schweiz geworden. Ohne die Söhne der Einwanderer aus Bosnien, Serbien und Kosovo wäre die Schweiz kaum Fussball-Weltmeister der U-17 geworden. Zudem tanzen Schweizer immer häufiger zu balkanischen Beats: Die monatlichen Konzerte ex-jugoslawischer Bands vor gemischtem Publikum in Zürich und die anschliessenden Partys sind überfüllt. Vielleicht ist diese Musik deshalb so beliebt, weil sie den Nerv der Zeit trifft: Fetzige Stücke wechseln sich mit traurigen Liedern ab. Tempo und Melancholie als Ausdruck unseres rasenden Stillstands.
Secondos in ihrer Schicht gefangen
Trotzdem ist das Ansehen der «Jugos» insgesamt nicht gestiegen. Ein Grund dafür ist die Kriminalitätsstatistik. Die meisten Menschen aus dem Balkan leben zwar unauffällig. Wegen einer Minderheit ist «Jugo» aber ein Synonym für Gewalt geblieben. Deshalb hat die Stellenbewerbung eines -ic bei gleicher Qualifikation gegenüber Schweizern eine geringere Chance.
Und der Erfolg der Fussballer täuscht darüber hinweg, dass viele Secondos nicht aus der sozialen Schicht herauskommen, in die sie hineingeboren wurden: Am häufigsten verlassen Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien die Schule ohne Abschluss. Viele arbeiten in Berufen mit geringen Anforderungen, wenige studieren an einer Uni.
Jedem sein Sündenbock
Hat die deutsche Zuwanderung also nichts verändert? Doch. Erstmals haben die neuen Immigranten die älteren nicht als Sündenböcke abgelöst, sondern ergänzt. Den Schweizer Mittelstand sprechen die Feinde der Fremden an, wenn sie die Ressentiments gegen Deutsche bewirtschaften. Dieser fühlt sich bedroht, weil ihm eine gut ausgebildete Konkurrenz erwächst. Gleichzeitig haben weniger gut situierte Schweizer mit den «Jugos» weiterhin ein Ventil für ihre Frustrationen.
Die Debatte über die Deutschen hat die Diskussion über «Jugos» nur in den Hintergrund gedrängt. Spätestens mit der SVP-Ausschaffungsinitiative von kriminellen Ausländern werden sie wieder im Mittelpunkt stehen. Und die Deutschen eine Pause bekommen.
Die «Jugos» haben Pause - Schweiz: Standard - bazonline.ch