Yeter war politisch links wie Hasret – und alevitischen Glaubens wie er. Was hätte sie gegen seinen Entschluss einwenden können? Seit sie ihn kannte, hatte er bei seinen Auftritten die kurdische und alevitische Tradition hochgehalten, hatte Kurdisch gesungen, als Kurdisch zu singen noch verboten war.
Er wollte Zeugnis ablegen für die eigene, die andere Tradition, die sich der sunnitischen Mehrheit nicht unterwerfen wollte. Er war stolz auf das Alevitentum, das seinen Anhängern Entscheidungs- und Glaubensfreiheit zugesteht und niemanden dazu verpflichtet, etwas tun oder glauben zu müssen – nicht einmal die Pilgerreise nach Mekka.
Er solle sich um sie keine Gedanken machen, redete Yeter ihrem Mann vor der Abreise zu. Nach vier Tagen würde er zurück sein, und sie sei so lange gut aufgehoben bei den Eltern. Denn Yeter musste sich schonen: Sie war schwanger. Wegen besorgniserregender Blutungen hatte ihr der Arzt geraten, die Zeit möglichst im Liegen zu verbringen.
Gleich nach seiner Ankunft meldete sich Hasret aus Ankara, einen Tag später rief er aus Sivas an. Am Freitag wartete Yeter allerdings vergeblich auf einen Anruf. Zunächst versuchte sie sich zu beruhigen. Hasret hatte sein Solokonzert bereits hinter sich. Wahrscheinlich war er schon bei seiner Großmutter auf dem Dorf, 80 Kilometer von Sivas entfernt.
Der vierte Name war der von Hasret Gültekin
Doch ein leiser Zweifel nagte weiter an ihr. Schon am Donnerstag hatte es in den türkischen Nachrichten im WDR geheißen, in Sivas habe es Proteste gegen das Festival gegeben. Das sei belanglos, hatte Hasret sie am Donnerstagabend am Telefon beruhigt. Doch war es wirklich belanglos?
Als er am Freitag bis 18 Uhr nicht anrief, wählte sie die Nummer des "Madimak"-Hotels, in dem die Künstler des Festivals untergebracht waren. Doch niemand nahm ab. Um 19 Uhr rief sie Hasrets Eltern in Istanbul an. Auch sie hatten keinerlei Nachricht von ihm. Als Informationsquelle blieben nur die türkischen Nachrichten. Yeter klebte am türkischen Fernsehsender – und irgendwann sah sie es. In Sivas habe es einen Hotelbrand gegeben, sagte der Sprecher. Mehrere Personen seien ums Leben gekommen. Der vierte Name, der verlesen wurde, war der Name von Hasret Gültekin.
Im ersten Augenblick stand sie unter Schock. Das konnte nicht sein. Er wusste doch, wie man sich bei Demonstrationen verhält! Dann schrie und weinte sie. Das durfte nicht sein! Sie bäumte sich auf gegen die Nachricht – und organisierte doch gleichzeitig überwach und zielstrebig ein Flugticket.
Den Notarzt in Köln, der ihr zur Beruhigung eine Spritze geben wollte, wehrte sie ab: Medikamente gefährdeten das Kind noch mehr. Noch in derselben Nacht flog Yeter nach Ankara, von dort fuhr sie direkt mit einem Bus weiter nach Zentralanatolien, nach gut acht Autostunden erreichte sie Hasrets Heimatort.
An Kohlenmonoxid erstickt
Da standen seine und ihre Verwandten, schwarz gekleidete Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, stumm die einen, klagend und schluchzend die anderen. Im Kreis, der den in ein Leinentuch gehüllten Leichnam umringte, sah Yeter nur Hasrets Haare. Dann wurde sie ohnmächtig.
An seinem Körper – sagten ihr später ihre Tante und ihr Onkel – hätte sich keine einzige Brandwunde gefunden. Hasret war nicht verbrannt, sondern an Kohlenmonoxid erstickt. Wie viele andere, die auf den Treppen und Gängen des Hotels nach Fluchtwegen gesucht hatten.
Als am 29. Mai 1993 in Solingen Neonazis einen Brandanschlag auf das Haus der türkischstämmigen Familie Genc verübten und fünf Angehörige der Familie, darunter auch Kinder, ums Leben kamen, waren Yeter und Hasret in Köln auf die Straße gegangen, um gegen das grausame Verbrechen zu protestieren. Es lag vollständig außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass Hasret Gültekin selbst nur einen Monat später in seinem Geburtsort am helllichten Tag vor laufenden Kameras zum Opfer eines noch größeren Verbrechens werden könnte.
Es war ein Wunder, dass das Kind noch lebte, als Yeter vier Tage später nach Köln zurückkehrte. Es war ein noch größeres Wunder, dass sie das Kind entgegen allen ärztlichen Prognosen noch bis zur 28. Schwangerschaftswoche halten konnte. Zwölf Wochen vor dem errechneten Termin kam der Junge auf einer speziellen Frühgeburtsstation zur Welt. Er war unterernährt und zu 70 Prozent vom Kindstod bedroht, weil seine Lungen nicht ausreichend ausgebildet waren. Aber er lebte. Und er hatte einen Namen.
Was genau geschah an jenem 2. Juli 1993?
Eigentlich hätte Hasret seinen Sohn gern Ali Haydar genannt, nach seinem großen Vorbild Pir Sultan Abdal. Da er jedoch fürchtete, Yeter könne der Name zu traditionell sein, hatte er Roni vorgeschlagen – nach dem kurdischen Ronahi. Das hatte Yeter gefallen. Konnte es einen schöneren Namen geben als "Morgenlicht"?
Roni war noch kein Jahr alt, da flog Yeter mit ihm in die Türkei. Sein schmächtiger Körper hing an einem kleinen Monitor; für die Kabel zu den selbstklebenden Sensoren an seiner Brust waren bei allen Leibchen die Nähte auf der linken Seite aufgetrennt. Während der Schwangerschaft hatte Yeter alle Gedanken an die Umstände von Hasrets Tod abgewehrt.
Sie hatte all ihre Kraft gebraucht, um das Kind am Leben zu halten. Jetzt aber fühlte sie sich stark genug, um sich mit den Ereignissen zu konfrontieren. Sie wollte wissen, was im "Madimak"-Hotel an jenem 2. Juli 1993 geschehen war. Alles, und jedes Detail. So lernte sie Serdar Dogan kennen, einen langjährigen Freund ihres Mannes. Serdar kam beim Brand noch einmal davon, doch sein jüngerer Bruder starb.
Yeter sog seine Berichte auf. Gierig wie ein Schwamm. Doch nach zwei Tagen reiste sie überstürzt ab. Sie wurde von Albträumen geplagt. Hasret schrie nach ihr, doch sie hörte ihn nicht. Oder sie schrie nach ihm, und er hörte sie nicht. Sie war nicht da gewesen, als er sie gebraucht hätte! Sie hatte ihm nicht helfen können, als er der Hilfe bedurft hätte!
Kein Loskommen vom Schuldgefühl
Seitdem versteht sie, warum Serdar nicht loskommt vom Tod seines Bruders. Warum er sich tief in seinem Innern schuldig fühlt, obwohl er keine Schuld trägt. Der Kampf gegen Diskriminierung und Gewalt wurde zu Serdars Obsession. Als Autor und Regisseur des Canlar-Theaters schrieb er ein Stück über das Massaker von Sivas, das ihn selbst fast das Leben kostete. Und er brachte ein Stück über das Pogrom von Kahramanmaraş auf die Bühne, wo im Dezember 1978 mehr als 100 Aleviten ermordet wurden.
Für Serdar wird Sivas niemals Vergangenheit. Ein Porträt des ermordeten Bruders hängt in seinem Wohnzimmer. Ein kleines Zimmer ist mit Erinnerungsstücken und Fotos des Toten wie ein Gedenkort hergerichtet. Sivas gehört zu Serdars Alltag.
Er sah die sunnitische Menge damals erstmals, als sie nach dem Freitagsgebet aus drei Moscheen zum Kulturzentrum zog, um 1500 Teilnehmer eines alevitischen Konzerts mit Stöcken und Steinen und Beschimpfungen zu empfangen. Mit einigen Freunden zog er sich daraufhin ins "Madimak" zurück, weil sie sich im Hotel sicher wähnten. Gegen 16 Uhr tauchte die inzwischen auf 10.000 Personen angewachsene Menge allerdings auch vor dem Hotel auf.
Tags zuvor waren Pflastersteine für die Straße angeliefert, doch nicht verlegt worden. Bald sackte die erste große Fensterscheibe in sich zusammen. Serdar und andere junge Männer verbarrikadierten den Hoteleingang mit Stühlen und Tischen, ältere Menschen, Frauen und Kinder wurden zur Sicherheit in die oberen Stockwerke geschickt.
Mob skandierte: "Es lebe die Scharia!"
Noch funktionierte das Telefon. Die Eingeschlossenen riefen in der Zentrale der Sozialdemokratischen Partei (SHP) in Ankara an. Aziz Nesin, der 78-jährige berühmte türkische Schriftsteller und Redner des Festivals, beschwor den SHP-Parteivorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten Erdal Inönü, sich der Belagerten anzunehmen. Journalisten aus Ankara, Istanbul, sogar aus dem Ausland riefen im Hotel an und sorgten sich. Doch vor Ort sorgte sich niemand.
Um 18 Uhr hielt die schwache Polizeilinie dem Druck der inzwischen 15.000 Personen zählenden Menge nicht mehr stand. Einige Soldaten, die zur Verstärkung geschickt worden waren, zogen sich erschreckt und hilflos zurück, als sie mit einem Pfeifkonzert und Sprechchören empfangen wurden. "Es lebe die Scharia!" – "Nieder mit dem Laizismus!" Niemand trennte die wütende Menge mehr vom Hotel.
Acht Stunden lang wurde das Massaker von den Kameras der Nachrichtenagentur News Agency (IHA) aufgenommen und am selben Abend im türkischen Fernsehen übertragen. Bis heute ist im Internet zu besichtigen, wie zwei Autos an der Vorderfront des Hotels umgestürzt und angezündet wurden und die Flammen bis zum zweiten Stock emporloderten.
Einige Demonstranten stiegen ins Gebäude, warfen Möbel aus den Fenstern, vergossen Benzin im Frühstücksraum und zündeten es an. Die Flammen ergriffen Tische, Stühle, Vorhänge und fraßen sich in die Teppiche. Schwarzer, heißer Rauch drang nach oben in die Zimmer, in die Korridore, in das Treppenhaus.
Er wollte mit seinem Bruder sterben
Längst war der Strom ausgefallen, im Treppenhaus konnte man die Hand nicht vor den Augen sehen. Serdar suchte mit anderen jungen Männern den Weg nach oben, um eine Brandschutztür im fünften Stockwerk hinaus auf das Dach zu öffnen. So sehr sich die Männer aber auch gegen die Tür stemmten – sie gab nicht nach. In jenen Minuten wurde Serdar bewusst, dass sie in der Falle saßen. Dass sie umkommen würden.
Vor dem Haus die wütende Menge, innerhalb des Hauses kein Ausgang. Fieberhaft begann er nach Serkan zu suchen, dem zwei Jahre jüngeren Bruder, für den er sich verantwortlich fühlte. So sollten sie sie finden – brüderlich im Sterben umarmt.
Er drängte gegen den Strom der Menschen wieder nach unten, stolperte durch die Korridore, verbrannte sich die Innenflächen der Hand, als er die glühend heißen Klinken zu den Zimmern aufriss. Serkan! Einmal noch hörte er ihn antworten – von oben im Treppenhaus. Dann nahm ihm der Rauch die Luft. Der Film riss.
Als die Feuerwehr sich endlich Zugang zum Gebäude verschafft und den Brand gelöscht hatte, überführte sie Serdar mit den Toten in eine Leichenhalle. Insgesamt waren 33 Sänger, Schriftsteller, Dichter und andere Teilnehmer des Alevitischen Kulturfestivals sowie zwei Hotelangestellte im "Madimak" umgekommen. Zwei weitere Personen waren von der Polizei erschossen worden, als sie sich entgegen den Anweisungen nicht vom Ort der mörderischen Ausschreitungen entfernt hatten.
Sechs Monate konnte Serdar nur lallen
Serdar lag auf einem der Bettgestelle, die für die vielen Toten zusätzlich in die Leichenhalle hineingeschoben und dicht nebeneinander aufgereiht worden waren. Erst am nächsten Morgen entdeckte ein Arzt, dass sein Körper noch warm war, dass sein Puls noch schlug.
Wegen der Überbelegung war die Klimaanlage ausgefallen; vermutlich rettete dies dem Bewusstlosen das Leben. Im Bauch des Flugzeugs, das ihn zurück zu seinen Eltern nach Ankara brachte, befand sich auch der Sarg mit der Leiche seines Bruders. Sie sollten keine Hoffnung hegen, warnten die Ärzte die Eltern. Sobald die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet würden, würde auch ihr zweiter Sohn nicht durchhalten. Oder er würde vegetieren, weder sprechen noch gehen können.
Nach 16 Tagen wachte Serdar aus dem Koma auf. Sechs Monate konnte er tatsächlich nur lallen; allein sein Onkel verstand, wenn er um Wasser bat. Doch nach einem halben Jahr saß er im Rollstuhl auf der ersten Gedenkveranstaltung für die Opfer von Sivas.
Was soll ich lügen, ich war schon immer neidisch auf dich, meinen Bruder,
Auf dein blaues, dein Halunken-, dein Kinderlachen,
Auf deine felsenfesten Überzeugungen …
Und sehr böse war ich darauf, … dass du vor mir gestorben bist.
Deine Eile, wie die einer Schwalbe, habe ich nicht verstanden.
Aber glaub mir, Bruderherz, am meisten beneide ich dich um deinen Tod …
Was soll ich nunmehr sagen;
Der Mond kreist umher, oh weh! Mein armes Herz.
Der Tod, er verfehlte sein Ziel.
Deutschland schützte einige Täter
Die Gerichtsverhandlungen gegen die Täter von Sivas zogen sich über viele Jahre. Von insgesamt 190 Verhafteten wurden 100 zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren und lebenslänglich verurteilt. In 33 Fällen erging die Todesstrafe, die, als die Türkei Letztere abschaffte, in lebenslange Haft umgewandelt wurde.
Neun rechtskräftig verurteilten Tätern gelang es, sich den Verfahren in der Türkei durch Flucht nach Deutschland zu entziehen. So wurde der Brandanschlag von Sivas nicht nur zu einer internen Angelegenheit der Bundesrepublik Deutschland, weil Angehörige von Opfern hier wohnen, sondern auch, weil Täter hier Unterschlupf fanden.
Acht von ihnen erhielten politisches Asyl beziehungsweise wurden als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Auslieferungsersuchen der Türkei wies Deutschland zurück. Entweder – befanden deutsche Gerichte – sei der persönliche Anteil der betreffenden Personen an dem Pogrom nicht erkennbar, oder ihre Verfahren seien nicht fair gewesen, da an ihrer Verurteilung ein Militärrichter beteiligt war.
Als Vahit Kaynar, ein zu lebenslanger Haft verurteilter Sivas-Täter, am 25. September 2011 aufgrund eines internationalen Haftbefehls an der deutsch-polnischen Grenze festgenommen wurde, setzte sich daher das deutsche Außenministerium bei der polnischen Regierung für ihn ein und erreichte gegen Kautionszahlung seine Rückkehr nach Berlin, wo Kaynar weiterhin unbehelligt sein Döner-Geschäft betreibt. Gezwungenermaßen muss Yeter in ihrer neuen Heimat Deutschland mit Männern zusammenleben, die mitschuldig sind am Tod ihres Mannes.
Nur eine Genugtuung bleibt
Sie hat nur eine, wenn auch bittere Genugtuung: Das Massaker von Sivas wurde zu einem Wendepunkt für das Alevitentum. Anfangs trafen sich in Sivas zum Jahrestag des Massakers am 2. Juli nicht mehr als einige Dutzend Verwandte der Ermordeten.
Seit vielen Jahren aber reisen aus der Türkei, aus Deutschland und anderen Ländern, in die Aleviten emigrierten, bis zu 25.000 Menschen an – trotz Scharfschützen auf den Dächern der Häuser des Demonstrationszuges, trotz Wasserwerfern rund um das ehemalige Hotel, das der Staat inzwischen aufgekauft und in dem er eine Kinderbücherei und ein Wissenschaftszentrum eingerichtet hat.
Auch ohne offizielle Erlaubnis schossen in der Türkei in den vergangenen 20 Jahren Dutzende von Cem-Häusern aus dem Boden, religiöse Versammlungsorte, die sich alevitische Kulturzentren nennen. Und unter den schätzungsweise 500.000 Aleviten in Deutschland erlebten alevitische Gemeinden und Vereine einen beispiellosen Aufschwung. Hatten viele Aleviten ihre Religionszugehörigkeit bis dahin verborgen, so kämpfen sie jetzt offensiv für ihre Rechte.
In Deutschland haben sie bereits erreicht, was es in der Türkei nach wie vor durchzusetzen gilt. Hier sind sie als Religionsgemeinschaft anerkannt, die ersten Schulen bieten alevitischen Religionsunterricht an. Alevitische Politiker finden sich bereits in den verschiedenen deutschen Parteien, und auffällig viele Aleviten wollen Jura studieren. Auch Roni, Yeters Sohn. "Wir brauchen doch Menschen, die Gerechtigkeit erstreiten."