Erdoğan und die Macht: Ein Drama in sieben Akten
Wie im Lehrbuch führt uns der türkische Regierungschef gerade vor, wie schnell man vom bejubelten Reformer zum Paranoiker werden kann.
Erster Akt: Es ist ein schönes Land. Doch die herrschende Elite ist verbraucht, korrupt, ihre Machtbasis zerbröckelt, ihre Legitimität schwindet. Es gibt drängende ökonomische oder gesellschaftliche Fragen, auf die ihr, innerhalb ihrer eigenen Logik, keine überzeugenden Antworten mehr einfallen. Es gibt einen Reformstau. Die Bevölkerung ist schon weiter als ihre politische Führung. Sie murrt, will mehr, wird immer ungeduldiger, drängt auf die Straße.
Zweiter Akt: Ein Reformer tritt an, um das Land zu erneuern. Er kommt aus einer anderen Bevölkerungsschicht als die bisher herrschende Elite. Mit ihm, so die Hoffnung, könnten sich die wirtschaftlichen Kräfte entfesseln und bisher brachliegende Ressourcen zu sprudeln beginnen. Die Bevölkerung ist von den neuen Chancen elektrisiert. Sie feuert den Reformer an, wählt ihn – auch wenn sie nicht jede seiner Überzeugungen teilt. Zumindest ein Stück des Weges wollen sie mit ihm gehen, später sehen wir weiter.
Dritter Akt: Das Land erlebt einen Aufschwung. Es gibt viel aufzuholen, nachzuholen. Jene Bevölkerungsgruppen, die erstmals im Land mitgestalten können, packen kräftig an, mit Eifer und Euphorie. Das neue Selbstbewusstsein strahlt nach außen – das Land fühlt sich als Modell für andere, es öffnet sich. Die alten Eliten leisten zwar noch ein bisschen Widerstand. Sie sind beleidigt, bunkern sich in ihren letzten Machtbastionen ein, versuchen ein paar Störfeuer, mitunter auch schmutzige Tricks. Doch insgeheim wissen sie, dass ihre Zeit abgelaufen ist.
Vierter Akt: Der Reformer gewöhnt sich an die Macht, und an die Annehmlichkeiten, die mit seiner Position einhergehen. Die vielen Leute, die gemeinsam mit ihm aufgestiegen sind, erwarten die Belohnungen, die er ihnen einst versprochen hat, und er verteilt sie auch. Sein Veränderungsdrang lässt nach, denn bei Veränderungen könnte er jetzt Pfründe und Privilegien verlieren. Die engsten Verbündeten freut das, doch andere Freunde gehen bereits leer aus. Viele, die ein Stück gemeinsamen Weges gehen wollten, merken, dass dieser Weg sich bereits gegabelt hat. Es gibt Kritik.
Fünfter Akt: Der Reformer versteht die Kritik nicht. Die einzige Art Kritik, die er kennt, ist jene der alten Eliten. Daher bekämpft er sie mit den alten Methoden, den einzigen, die er kennt. Seine Anhänger müssen immer enger zusammenrücken, bekommen immer verbissenere ideologische Parolen zu hören, ihre Loyalität wird mit immer rigideren Vorschriften erzwungen. Man beschwört die Einheit des Volkes. Es gibt nur noch „wir“ und „die anderen“: „Die dort draußen, die alten Feinde, gönnen uns nicht, was wir erreicht haben! Sie wollen mich stürzen und euch alles wegnehmen, was ich euch gegeben habe!“
Sechster Akt: Der Reformer fühlt sich umzingelt, er wittert überall gegen ihn gerichtete Verschwörungen. „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich!“ Einst liebte er die Massen und ihre Energie, jetzt fürchtet er sich vor den Massen und ihrer Energie. Wo zwei zusammenstehen, könnten sie schlecht über ihn reden! Also versucht er, sein Volk am Kommunizieren zu hindern. Sperrt Medien zu, verbietet Versammlungen, schickt Wasserwerfer und behelmte Polizei. Die letzten Vertrauten rücken von ihm ab. Was sich im Land tut, kriegt er immer weniger mit.
Siebenter Akt: Die Reformen sind vorbei. Die herrschende Elite ist verbraucht, korrupt, ihre Legitimität schwindet, ihre Machtbasis zerbröckelt. Es gibt drängende ökonomische oder gesellschaftliche Fragen, auf die ihr, innerhalb ihrer eigenen Logik, keine überzeugenden Antworten mehr einfallen. Die Bevölkerung ist schon weiter als ihre politische Führung. Sie murrt, wird immer ungeduldiger – und damit sind wir wieder beim ersten Akt angelangt.
So geht die Geschichte, immer wieder. Derzeit wiederholt sie sich in der Türkei unter dem einstigen Reformer Recep Tayyip Erdoğan. Er ist ganz sicher nicht der Letzte seiner Art.
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