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Frag HAL9000! Das Allwissende Orakel beantwortet ALLES!

Kann man Deutschland deiner Meinung nach als "Allein Schuldigen" für den ersten Weltkrieg freisprechen oder nicht?


Das ist eine sehr komplexe Frage, über die man Hunderte Seiten schreiben könnte.

Ich beginne mal damit, was die Alliierten überhaupt mit Kriegsschuld gemeint haben. Laut Versailler Vertrag waren vor allem drei Punkte gemeint.

1. Deutschland habe den Krieg angezettelt, indem es die Donaumonachie gezwungen hat Serbien den Krieg zu erklären, wohlwissend, welche Kettenreaktion das in Gang setzen würde.
2. Deutschland hat im Verlauf des Krieges die meisten Gräueltaten begangen, weil es eine barbarische Nation ist.
3. Außerdem war Deutschland nie an einem Frieden interessiert, sondern ist bis zuletzt seinen Hegemonialbestrebungen hinterher gelaufen.

Diese Kriegsschuldfrage, wie der gesamte Versailler Vertrag, wurde als große Demütigung empfunden und von deutschen Historikern noch bis in die 60er des letzten Jahrhundert abgelehnt. Demnach sei der 1. Weltkrieg ein historischer "Unfall", bei dem niemand als echter Schuldiger identifiziert werden könnte, weil alle Beteiligten nur Verteidigungskriege im Sinn hatten. Erst der Historiker Fritz Fischer, der angesichts der Tatsache, dass nur wenige Jahre später wieder ein Expansionskrieg von Deutschland ausging, die bisherige Schilderung der Dinge nicht für plausibel hielt (der 2. Weltkrieg galt ebenfalls als "Unfall" bzw. als persönliche Verantwortung Adolf Hitlers) stieß eine Debatte über die Kriegsschuld an, in der tatsächlich Deutschland als Schuldiger darstehen könnte. Laut Fischer war der 1. Weltkrieg von Kaiser Wilhelm II. 1912 beschlossen worden, um Deutschland endlich seinen Platz an der Sonne zu gewinnen. Dabei wurde Wilhelm II. von einer militärischen Elite, die über die Überlegenheit des deutschen Militärs wusste, und sie nutzen wollte, einer wirtschaftlichen Elite, die der höchsterfolgreichen deutschen Industrie neue Ressourcen und Arbeitskräfte beschaffen wollte, und einer geistigen Elite, die einen neuen Sieg über den Erbfeind Frankreich erringen wollte (die deutsche Nation formte sich ja als Reaktion auf die Demütigung der napoleonischen Besatzung), noch weiter in seinem Beschluss befestigt. Und es scheint auch tatsächlich wahr zu sein. Bismarck konnte noch deutlich größere Konflikte zwischen der Donaumonarchie und Russland diplomatisch lösen. Und auch die Serbienkrise hätte mit Sicherheit ohne Krieg gelöst werden können. Allerdings war das deutsche Reich und sein inzwischen einziger Bündnispartner Österreich-Ungarn dazu nicht willens. Den 1. Punkt der alliierten Anklage würde ich also durchaus bejahen.

Mit Punkt 2 sind v.a. drei Tatbestände gemeint. Zum einen die Besatzung des neutralen Belgiens aus kriegsstrategischen Gründen, sowie das Verhalten der deutschen Soldatne dort. In der britischen Kriegspropaganda "rape of belgium" getauft, ist damit die Erschießung von Tausenden Zivilisten, sowie das Niederbrennen einer der ältesten Universitätsbiliotheken des Landes gemeint. Der zweite Tatbestand ist der von den deutschen begonnene Gaskrieg, der ca. 100.000 Soldaten tötete, ohne die Kriegslage zu beeinflussen. Der dritte Tatbestand ist die Tatsache, dass der Kriegsschauplatz in Nordfrankreich lag, und deswegen v.a. Frankreich sich als Leidtragender des Krieges sah. Ob das jetzt Deutschland zu einer barbarischen Nation macht möchte ich nicht beurteilen. Allerdings stimmen die drei Vorwürfe inhaltlich. Deutschland war das einzige Land, welches die Neutralität anderer Staat nicht respektierte, massenweise Kriegsverbrechen an Zivilisten begang, und den Gaskrieg begonnen hat. Das sind drei Schrecklichkeiten, die die Aussage durchaus rechtfertigen, Deutschland sei für die größten Gräueltaten verantwortlich.

Der dritte Punkt. Die militärischen Eliten haben sich während des Kriegsverlauf mehr und mehr Regierungsverantwortung sichern können. Ab 1916 war die Oberste Heeresleitung praktisch Alleinherrscher im deutschen Reich. Daher würde ich nicht mehr von Deutschland sprechen, sondern von der OHL. Diese war in der Tat eher an einem überraschenden Endsieg interessiert, als an einem Ausgleichsfrieden. Die Ausweitung des U-Boot-Krieges, sowie die Frühjahresoffensive zeugen davon. Allerdings darf auch in Frage gestellt werden, ob den die Alliierten ihrerseits an einem Ausgleichsfrieden interessiert waren, und das Kriegsziel inzwischen nicht auch die bedingungslose Kapitulation des deutschen Reiches war, wie sie letztendlich auch erfolgt ist. Angesichts einer solchen alliierten Haltung wäre ein überraschender Endsieg die einzige Option für Deutschland gewesen die Kapitulation abzuwenden. Meiner Meinung nach war nach Kriegseintritt der USA Deutschland in einer aussichtslosen Position, und die Frühjahresoffensive war die einzige Chance die bedingungslose Kapitulation abzuwehren. Diesen Anklagepunkt würde ich also nicht bestätigen.

Solche historischen Fragen sind jedoch reichlich Kontrovers. Der britische Historiker Niall Fergusson sieht die Hauptursache in der britischen "balance of power"-Politik. Die Briten wollten unbedingt ein Mächtegleichgewicht in Europa erzeugen, obwohl das durch die Gründung des deutschen Reiches in der Mitte Europas schlicht nicht mehr möglich war. Durch diese grundlegende Fehleinschätzung haben die Briten Europa nicht nur den 1. Weltkrieg auferlegt, sondern auch den 2., ohne dass man den grundlegenden Trend, nämlich dass Europa sich unter deutscher Führung vereinigt, hätte aufhalten können, noch hatten die Briten eine Begründung, wieso diese Vereinigung Europas unter deutscher Führung eine negative Sache seien sollte. Die britische Propaganda sprach von einer Bedrohung der britischen Überlegenheit zu See durch Deutschland, allerdings sei diese faktisch nicht gegeben gewesen und nur ein Instrument, um die balance of power Politik zu rechtfertigen.

Indem man die Einigung unter Deutschland aber zu verhindert versucht hat, hat man nicht nur zwei unnötige Kriege geführt, man hat auch dem Faschismus, Kommunismus und Antisemitismus in Europa einen Nährboden verschafft, und in der Anstrengung des Krieges die eigene weltpolitische Rolle eingebüßt. Innerhalb weniger Jahrzehnte waren die Europäer von den unangefochtenen Weltmächten zu den Marionetten der Sowjet Union und den USA geworden.

Um deine Fragen damit abschließend zu beantworten: Von der Alleinschuld ja, von der Hauptschuld nein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Welche sind die linguistischen Unterschiede zwischen der bulgarischen und der serbischen Sprache?

LG und Danke, Heraclius
 
@HAL9000

Danke für deine ausführliche Antwort, sehr durchdacht. Teile nahezu die gleiche Meinung. Es ist tatsächlich so, dass Fritz Fischer die westdeutsche Geschichtswissenschaft mit seinen "neuen" Thesen über die Schuld des Deutschen Kaiserreiches am Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Aufregung versetzte und bis vor ein paar Jahren ausnahmslos akzeptiert worden ist.

Ein entfernter "Nachhall" der von Fischer ausgelösten Debatte ist noch in aktuellen Darstellungen zur Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkrieges zu spüren. Zwar muss man sagen, teilt heute niemand mehr Fischers hartnäckige Position, das Deutsche Reich habe gezielt auf einen grossen europäischen Krieg hingearbeitet und sich an einem "Griff nach der Sonne" versucht. Doch in vielen deutschsprachigen Arbeiten (ob Berghahn, Hildebrand oder Schöllgen) fällt eine einseitig "deutschlandzentrierte" Sicht auf die Krise vom Juli 1914 auf. Die Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen der deutschen Führung werden weithin als massgeblicher Kriegsauslösender Faktor betrachtet.
 
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