Türkische Generäle räumen das Feld
Keine Schockwellen nach Militärrücktritt
In der Türkei sind die Reaktionen nach dem Rücktritt der Militärführung überraschend verhalten. Sowohl Präsident Gül als auch Regierungschef Erdogan versuchen, die Lage zu beruhigen, statt ihren Sieg auszukosten. Und schon bald sollen die neuen starken Männer beim Militär ernannt werden.
Von Reinhard Baumgarten, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Business as usual: Die türkische Staatsführung gibt sich alle Mühe, die Ereignisse vom Freitag als normalen Vorgang erscheinen zu lassen. Bereits am Samstag hatte Präsident Abdullah Gül vor Journalisten klargestellt: Niemand solle das als eine Art Krise oder Problem sehen. Zweifellos seien die Ereignisse ungewöhnlich, aber alles sei auf einem guten Weg. Dann verabschiedete sich das türkische Staatsoberhaupt aus Ankara und flog nach Istanbul.
Im Streit mit der Regierung gab die Militärführung auf. Generalstabschef Kosaner (Mitte) und hohe Kommandeure der türkischen Armee (Archivbild 2010).
In den türkischen Zeitungen war hingegen noch von einem Vier-Sterne-Erdbeben die Rede, von einem einschneidenden Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Militär und Politik.
"Gewisses Schuldeingeständnis"
Jetzt herrscht gespannte Erwartung. Die Türkei wird nicht von unkalkulierbaren Schockwellen gebeutelt. Die Zeit der Staatsstreiche sei zu Ende, schreibt die Zeitung "Taraf" und sieht in den Rücktritten der gesamten Militärführung ein gewisses Schuldeingeständnis, dass an den Putschvorwürfen gegen rund 250 Offiziere wohl doch etwas dran sein müsse.
Business as usual. Regierungschef Recep Tayyip Erdogan erwähnte die Rücktritte des Generalstabchefs sowie der Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine öffentlich mit keinem einzigen Wort. Er und Präsident Gül hatten bereits am Freitag mit Necdet Özel einen neuen Generalstabschef auserkoren. Erdogan gibt sich derweil als visionärer Staatsmann, der über die Niederungen gewöhnlicher Machtkämpfe erhaben zu sein scheint. Er spricht in Anspielung auf die von den Militärs diktierte - gegenwärtig noch gültige - Verfassung über die neu zu schreibende Verfassung: "Wir erleben eine Zeit, in der wir große Umbrüche in Politik, Wirtschaft, Justiz und Soziales ebenso erfahren wie kulturelle Reformen. Wir brauchen jetzt dringend eine zivile Verfassung, die diese Umbrüche genauso widerspiegelt wie den Willen des Volkes nach Freiheit."
Kein lauter Triumph
General Isik Kosaner (l.) und Premierminister Tayyip Erdogan Business as usual? Weit gefehlt! Erdogan triumphiert nicht laut. Mit ihrem Rücktritt haben die Militärs eine bemerkenswerte demokratische Reife bewiesen und dem AKP-Chef einen nie für möglich gehaltenen Sieg ermöglicht. Erdogan denkt nicht in Schritten, er denkt in Etappen.
"Mit der neuen Verfassung sollten wir deutlich machen", betont der Regierungschef, "dass wir die Demokratie und die Achtung der Gesetze verbessern wollen." Er glaube, "bis zum Ende dieser Legislaturperiode werden wir die bestmögliche Verfassung für die Türkei haben".
Ab Montag kommt turnusgemäß der Oberste Militärrat zusammen. In den kommenden Tagen werden dann die neuen starken Männer der türkischen Streitkräfte von Erdogan ernannt und von Staatspräsident Gül bestätigt.