Erdogans Rede für Schlagstock und Gummigeschoss
12.06.2013 · Während der türkische Premier sein Volk anstachelte, ließ er die Polizei zugreifen. Es ging Erdogan um ein weiteres Anheizen der Lage und die Legitimation von Gewalt. So handelt kein Staatsmann.
Während gestern die türkische Polizei ihren Angriff auf den Taksim-Platz begann, hielt der türkische Ministerpräsident eine lange Rede. Sie wurde vom Hörfunk und von mehreren türkischen Fernsehsendern live übertragen. Im ganzen Land schalteten die Leute das Radio ein oder setzten sich vor ihre Fernseher. Leider waren Erdogans Worte nicht die eines demokratisch gesinnten, besonnenen Staatsmannes, dem daran liegt, die Ruhe in seinem Land wiederherzustellen. Es war vielmehr die Rede eines Mannes, der jedes Maß und Gespür für die Situation verloren hat, der seine Anhänger ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Demonstranten aufhetzen will.
In beinahe jedem Satz, den Erdogan sagte, verbog er die Wirklichkeit. So sehr, dass die Gewalt gegen die Demonstranten jedem, der bisher nicht die Gelegenheit hatte, die Leute auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park persönlich zu erleben, als angemessenes Mittel gegen sie erscheinen musste. Erdogan ließ die Polizei angreifen, während er im Fernsehen zu seinem Volke sprach. Die Nachrichtenagentur Reuters sendete ihre Bilder vom Taksim-Platz direkt auf ihre Internetseite. Und wenn man diese Übertragung verfolgte und parallel dazu der Rede Erdogans lauschte, dann kamen einem seine Worte vor wie eine unheimliche Begleitmusik, speziell komponiert für die Schlagstöcke, Wasserwerfer, Gummigeschosse und dem Tränengas, die im selben Augenblick über den unbewaffneten Demonstranten hereinbrachen. Erdogan wirkte wie ein Vater, der auf seine Kinder eindrischt, und währenddessen sich und ihnen und den zuschauenden Nachbarn erklärt, warum es so zu ihrem Besten sei.
Erdogan schimpft, während die Polizei vorrückt
In Istanbul hatten sich die Leute zunächst gewundert, dass die Hundertschaften der Polizei ausgerechnet morgens gegen 7.30 Uhr auf dem Taksim-Platz erschienen waren - und nicht erst bei Einbruch der Dunkelheit, wie sie es an den vorangegangenen Tagen des Protests getan hatten. Später am Vormittag lieferte ihnen Erdogans Rede die Erklärung für dieses Verhalten. Der türkische Ministerpräsident hielt seine Rede im Parlament in Ankara, und das kommt eben in der Regel vormittags zusammen und nicht erst am Abend.
Erdogan drückte in seiner Ansprache alle Knöpfe, von denen er annimmt, dass sie maximale Teile der Bevölkerung maximal erregen. Er sprach von Religion, Ehre, Wirtschaft, Verschwörungstheorien, und er sprach von anarchistischer Gewalt und behauptete, die Demonstranten seien „Terroristen“. Der Ministerpräsident sagte, während zur selben Zeit der Taksim-Platz mit Tränengas eingenebelt wurde, die Demonstranten würden in die Moscheen des Landes eindringen, dort Alkohol konsumieren und „unsere kopftuchtragenden Schwestern“ auf der Straße attackieren. Erdogan sagte auch, und in diesem Augenblick rückten die Wasserwerfer vor, die Demonstranten demütigten die Polizei. Er behauptete, während man im Internet sah, wie ein einzelner Demonstrant sich hinter einer Barrikade aus Baustellenmaterial kauerte und eine türkische Flagge schwenkte, dass die Ladenbesitzer am Taksim-Platz ihre Läden bald dicht machen müssten, weil sich niemand mehr traue, dort einzukaufen - einzig jene, die Bier und Raki im Angebot hätten, machten riesige Geschäfte. Erdogan sagte weiterhin, und in diesem Moment stob gerade eine Gruppe von Demonstranten vor weiß behelmten Polizisten auseinander, dass Kreise, die der Türkei schaden wollten, „den Kindern im Park“ Geld bezahlt hätten, damit sie Unruhe stifteten im Land.
Das Einzige, wozu sie in der Lage seien, sei „das Werfen von Molotow-Cocktails.“ Bereit zu Gesprächen seien sie hingegen nicht. Und schließlich, aus dem Live-Stream von Reuters waren gerade Schüsse von Tränengas- und Gummigeschosspistolen zu hören, setzte Erdogan die Demonstranten in seiner Rede auch noch mit den Verantwortlichen des Attentats von Reyhanli gleich, jenem Ort an der türkisch-syrischen Grenze, wo Mitte Mai 52 Leute durch mehrere Autobomben getötet worden waren.
Über Umwege zum Taksim-Platz
Was Erdogan in seiner Ansprache sagte, entbehrt jeder Grundlage. Frauen mit Kopftüchern werden höchstens von der Polizei angegriffen, denn sie gehören inzwischen fest zum Heer der Demonstranten dazu, und es wird sehr genau darauf geachtet, die religiösen Gefühle der Leute nicht zu verletzen. Und wenn Erdogan sagt, dass die Demonstranten nicht mit sich verhandeln ließen, dann zeigt die Wirklichkeit, dass er gar nicht daran interessiert ist, es zu Verhandlungen kommen zu lassen.
Am Montag hieß es, er habe ein Treffen mit Vertretern der Anti-Regierungs-Proteste für Mittwoch angesetzt - gestern stellte sich die Meldung als falsch heraus. Auch öffentliche Stellungnahmen der Widerstandsgruppen verhindert der Ministerpräsident. Eine von ihnen, die „Taksim-Plattform“, hatte für den gestrigen Vormittag eine Pressekonferenz anberaumt. Sie musste wegen des Polizeieinsatzes kurzfristig abgesagt werden. Jene Journalisten, die sich schon vor der verabredeten Zeit im Gezi-Park eingefunden hatten, trieb die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern auseinander.
Zeitgleich stürmte die Polizei das Caglayan-Gerichtsgebäude, wo eine türkische Anwaltsvereinigung ein Treffen abhielt, deren
Mitglieder den Demonstranten kostenlosen Rechtsbeistand leisten. Die Polizei verhaftete fünfzig Anwälte. Jenen Demonstranten, die bei dem Angriff auf den Taksim-Platz verhaftet worden sind, fehlt damit jeder Rechtsbeistand. Damit keine weiteren Unterstützer des Widerstands den Taksim-Platz erreichen können, wurde der Fährbetrieb zwischen der asiatischen und der europäischen Seite der Stadt weitgehend eingestellt. Über Twitter und Facebook verbreiteten die Demonstranten Nachrichten, wie man über Umwege, also an den Hundertschaften der Polizei vorbei, zum Taksim-Platz gelangen kann, und riefen dazu auf, Medikamente und Verbandsmaterial mitzubringen. Zufolge von Twitter-Meldungen der Organisation „Revolutionäre Muslime“, die ebenfalls im Gezi-Park vertreten sind, zerstörte die Polizei den provisorischen Gebetsraum, der von deren Mitgliedern auf dem Gelände errichtet worden war.
Polizisten in den Reihen der Demonstranten
Als die Polizei die ersten Tränengaspatronen auf die Demonstranten abgeschossen hatte, waren Steine und Molotow-Cocktails auf die Einsatzkräfte geworfen worden. Es stellte sich jetzt heraus, dass die Urheber dieser Gegenangriffe - zumindest die meisten von ihnen - zivil gekleidete Polizisten gewesen sind. Sie spielten die Rolle von Agents provocateurs. Die Stimmung sollte angeheizt werden, um mehr repressive Gewalt von Seiten der Polizei zu legitimieren. Die Aktivisten vom Gezi-Park haben immer darauf bestanden, dass ihr Protest ein friedlicher Protest bleiben soll. Sie konnten die Unruhestifter identifizieren.
Mit dem Erkennen von Zivilpolizisten haben sie schon einige Erfahrung gesammelt. Bei den Zusammenstößen im Stadtteil Besiktas Anfang vergangener Woche zum Beispiel fischten sie eine Handvoll von ihnen aus der Reihe der Demonstranten und drohten ihnen damit, ihre Identität der Menge preiszugeben, sollten sie ihnen nicht folgen. In der Wohnung von einem der Aktivisten nahmen sie den Polizisten die Ausweise ab, kochten ihnen Tee und stellten den Fernseher an. Als alles vorüber war, konnten sie wieder gehen - keiner der Zivilpolizisten verriet die Adressen, an denen sie festgehalten worden waren. Sie unterließen es, um sich nicht selbst zu gefährden. Doch genauso wahrscheinlich ist, dass auch sie spüren, wie der Wind im Land sich dreht. Schon vor dem abermaligen Angriff auf den Taksim-Platz hatten Dutzende Polizisten ihren Dienst quittiert. Gut möglich, dass es nun noch mehr werden.
Proteste in der Türkei: Erdogans Rede für Schlagstock und Gummigeschoss - Debatten - FAZ
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Hautverätzungen bei Demonstranten in IstanbulTürkische Polizei mischt giftige Chemikalien in Wasserwerfer
http://www.focus.de/politik/ausland...-chemikalien-in-wasserwerfer_aid_1016701.html
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Hamburger Regisseur Fatih Akin fordert ein Ende der Gewalt
Der Hamburger Filmregisseur Fatih Akin hat einen offenen Brief an Staatspräsident Abdullah Gül geschrieben. Gemeinsam mit 40 Künstlern appellierte er außerdem an Kanzlerin Angela Merkel, für eine Ende der Gewalt in der Türkei einzutreten.
Sehr geehrter Herr Gül,
ich schreibe Ihnen, um Sie über die Ereignisse vom Samstagabend zu informieren, da die türkischen Medien kaum bis gar nicht darüber berichtet haben. In Istanbul wurden erneut hunderte von Zivilisten durch Polizeigewalt verletzt. Ein 14jähriger Jugendlicher wurde von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen und hat Gehirnblutungen erlitten. Er ist nach einer Operation in ein künstliches Koma versetzt worden und schwebt in Lebensgefahr. Freiwillige Ärzte, die verletzten Demonstranten helfen wollten, wurden wegen Terrorverdacht festgenommen.
Provisorische Lazarette wurden mit Tränengas beschossen.
Anwälte, die gerufen wurden, festgenommene Demonstranten zu verteidigen, wurden ebenfalls festgenommen. Die Polizei feuerte Tränengaspatronen in geschlossene Räume, in denen sich Kinder aufgehalten haben. Die bedrohten und eingeschüchterten türkischen Nachrichtensender zeigten währenddessen belanglose Dokumentarfilme. Diejenigen, die versuchen über die Ereignisse zu berichten, werden mit hohen Geldstrafen und anderen Mitteln versucht, zum Schweigen zu bringen. Eine Trauerfeier für Ethem Sarisülük, der bei den Demonstrationen ums Leben gekommen ist, wurde verboten! Stattdessen darf ein Staatssekretär alle Demonstranten, die am Taksim Platz erschienen sind, als Terroristen bezeichnen. Und Sie, verehrter Staatspräsident, Sie schweigen!
Vor zehn Jahren sind Sie und ihre Partei angetreten, sich für die Grund- und Bürgerrechte in der Türkei einzusetzen. Ich möchte nicht glauben, dass Sie sich um der Macht wegen von Ihrem Gewissen verabschiedet haben. Ich appelliere an Ihr Gewissen:
Stoppen Sie diesen Irrsinn! Fatih Akin
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