Türkei - die schweigsame Schutzmacht der Krimtataren
Die Krimtataren, von denen heute wieder etwa 300 000 auf der Schwarzmeerhalbinsel leben, haben enge historische, kulturelle und familiäre Bindungen in die Türkei.
Drei Jahrhunderte stand das Khanat der Krim unter osmanischer Vorherrschaft, ehe es Ende des 18. Jahrhunderts vom russischen Zarenreich erobert wurde. Die Sprache der Krimtataren ist ein lokaler Dialekt des Osmanischen, der dem Türkischen noch immer sehr nahe steht. Eine große Zahl von Krimtataren ist in die Türkei ausgewandert. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, aber in über 30 türkischen Städten existieren Vereine von Krimtürken.
Die Türkei sieht sich gerne als Schutzmacht aller Turkvölker und Minderheiten von der Adria bis Kamtschatka. Im Zweiten Weltkrieg ermutigte die Türkei, obwohl im Prinzip ein neutrales Land, die von Stalin hart unterdrückten Krimtataren zur Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern. Es wurde eine »Blaue Brigade« gebildet, die an der Seite der Wehrmacht kämpfte. Nach dem Krieg gelangte ein Teil der Blauen Brigade und der Familien der Soldaten in die Türkei. Nach verschiedenen Berichten in der Zeitung »Radikal« wurden Überlebende der Blauen Brigade noch im Mai 1945 an die Sowjetunion ausgeliefert.
Als die Betroffenen in der Türkei davon erfuhren, ertränkten sich einige von ihnen im Stausee von Kizil Cakcak, die Ausgelieferten wurden direkt hinter der Grenze erschossen. Die Angaben über die Zahl der bei dieser Aktion Umgekommenen schwanken zwischen 200 und 2000. Die Türkei tat damit das gleiche, was vorher die Briten getan hatten, die ebenfalls Tausende von Kollaborateuren, aber selbst von Russen, die in alliierten Armeen gekämpft hatten, durch Auslieferung in den sicheren Tod schickten.
Die Kollaboration von Teilen der Krimtataren mit den deutschen Faschisten nahm Stalin 1944 zum Anlass, um nach der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee fast die gesamte tatarische Bevölkerung nach Usbekistan zu deportieren. Zehntausende kamen dabei ums Leben. Erst unter Michail Gorbatschow als KPdSU-Generalsekretär ab 1985 durften Krimtataren auf die Halbinsel zurückkehren.
Trotz der engen Beziehung zu den Krimtataren zeigt die Türkei in der derzeitigen Krimkrise bisher wenig Engagement. Weder Premier Recep Tayyip Erdogan noch sein Außenminister Ahmet Davutoglu haben sich bisher geäußert. Auch in den Medien ist die Aufmerksamkeit gering. Nach dem Beginn der Militäraktionen auf der Krim konnten noch zwei russische Kriegsschiffe den Bosporus passieren, um die russische Schwarzmeerflotte zu verstärken. Die Türkei hätte das Recht gehabt, ihnen die Durchfahrt zu verweigern.
Über diese Haltung der Türkei sind die Krimtataren keineswegs erfreut. Die Zeitung »Milliyet«, die sich nach einem Eigentümerwechsel mit Kritik an der türkischen Regierung sonst sehr zurückhält, zitierte einen tatarischen Abgeordneten von der Krim mit den Worten: »Wir haben den osmanischen Sultan nicht vergessen, der uns im 18. Jahrhundert Russland ausgeliefert hat, und das heutige Schweigen der Türkei haben wir uns auch gemerkt.« Laut »Milliyet« legte der Abgeordnete großen Wert darauf, dass sein Name nicht erscheint. Dazu zitiert ihn die Zeitung: »In diesem Spiel sind wir so klein wie ein Käfer, deshalb müssen wir uns mehr in acht nehmen als alle anderen.«
Für die Zurückhaltung der offiziellen Türkei gibt es vor allem zwei Gründe.
Zum einen ist die Türkei derzeit mit sich selbst beschäftigt. Das ist zwar eigentlich der Normalfall, doch diesmal ist es extrem. Das Land starrt auf die Kommunalwahlen am 30. März. Sie werden zeigen, welchen Einfluss die Gezi-Revolte und die von der Gülen-Bewegung publik gemachten Korruptionsskandale auf Erdogans Wähler tatsächlich haben. Erdogans politische Zukunft könnte davon abhängen.
Andererseits sollte man nicht vergessen, dass die Solidarität mit den »türkischen Minderheiten« ein Instrument der Außenpolitik ist. Diese Karte wird nicht gezogen, wenn sie der türkischen Außenpolitik empfindlich schaden würde. Im Moment sieht es rundum schlecht aus. Die Beziehungen zu Syrien, Irak, Israel, Ägypten und Iran sind aus unterschiedlichen Gründen schwer belastet. Die Türkei hat in den letzten Jahren viel Mühe in gute Beziehungen zu Russland gesteckt. Nun noch eine Krise mit Moskau wäre einfach zu viel.
Russland ist auch ökonomisch wichtig für die Türkei. Außerdem genießt es Ankara, dass es seine Außenpolitik auf der Basis ganz verschiedener Zugehörigkeiten formulieren kann: EU-Kandidat, NATO-Mitglied, Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Shanghai-Gruppe... Durch eine antirussische Haltung bezüglich der Krim würde sie vermutlich ihr Spielbein in der Shanghai-Gruppe verlieren, ohne viel zu erreichen.
10.03.2014: Türkei - die schweigsame Schutzmacht der Krimtataren (neues-deutschland.de)