Für den Istanbuler Rechtsanwalt Abdülbaki Boga, der im Vorstand der größten türkischen Menschenrechtsvereinigung IHD sitzt, handelt es sich bei dem Massaker nicht um ein Eifersuchtsdrama oder gar Blutrache. "Bei Blutrache oder Ehrenmorden werden immer nur ein oder zwei Menschen getötet", sagt Boga. "Die Täter verstecken sich dabei nicht hinter Masken. Auch das Töten von Frauen und Kindern passt nicht in das Schema. Und noch nie, selbst in den brutalsten Zeiten, als im Südosten alle möglichen Milizen mordeten, hat es ein solches Abschlachten während des Gebets gegeben."
Für einen "üblichen" Fall von Blutrache stimmten die Dimensionen des Mordes nicht, sagt Boga. Seltsam sei auch, dass die "Dorfschützer" zur Tatzeit an einen weit entfernten Ort versetzt wurden. Um das Bilgeköy-Massaker aufzuklären, müsse erst geklärt werden, wer die Dorfschützer auf ihre Position geschickt habe.
Vieles spreche für einen "geplanten Anschlag", verübt von Tätern, über die der Staat schon vor längerem die Kontrolle verloren habe: ehemalige Sicherheitskräfte und Paramilitärs, die den kurdischen Südosten für ihre eigenen Interessen missbrauchten und dabei im sprichwörtlichen Sinne über Leichen gingen. Diese Leute hätten ein großes Interesse, den Friedens- und Demokratisierungsprozess der Türkei zu sabotieren, sagt Boga. Dass es diese Leute gibt, ist unter Beobachtern der politischen Szene in der Türkei weitgehend unumstritten. Sollte an der sinistren Variante des Verbrechens von Bilgeköy ein Funken Wahrheit sein, könnte das Timing kaum besser sein. Für diesen Dienstag hatte der militärische PKK-Führer im Nordirak, Murat Karayilan angekündigt, eine "Roadmap" für die Entwaffnung seiner Organisation vorzustellen - eine Nachricht, die weitgehend ungehört verhallte.