Herdenversagen statt Herdenimmunität
04.12.2020 um 18:55
von Anneliese Rohrer/ Die Presse
Österreich hat keine Rücktrittskultur. Das ist bekannt. In der Regierung aber scheint sich niemand für Fehler wenigstens zu schämen und für Peinlichkeiten zu genieren.
Ein Vorschlag zur Güte: Nach den Vorfällen in diesem Herbst scheint es angebracht, Politikern den Duden unter den Weihnachtsbaum zu legen und die Seiten mit den Begriffen „schämen“ und „genieren“ zu markieren. Die Fälle eklatanten Versagens häufen sich. Streng genommen müsste das Konsequenzen haben. Wer sich aber auf die Suche nach der politischen Verantwortung begibt, landet in Österreich meist – nirgendwo. Es geht nicht um Rücktritte. Unter den gegebenen Umständen wäre schon viel gewonnen, gäbe es ein Bewusstsein, wofür man sich schämen sollte, wo man versagt hat, welche Peinlichkeit der Öffentlichkeit nicht (mehr) zumutbar ist. Aber in Österreich gilt seit jeher: Alles nicht so eng sehen.
Doch. Wir sehen es aber zur Abwechslung „so eng“. Hier einige exemplarische Beispiele: Ein Attentat in Wien. Die Vermutung, es hätte verhindert werden können, lässt sich nicht von der Hand weisen. Zuständig für jene Stellen, die versagt haben, ist Innenminister Karl Nehammer. Dieser aber reagierte auf die Frage nach seiner politischen Verantwortung mit einer altbekannten Phrase: Seine Auffassung von politischer Verantwortung sei, sich den Schwierigkeiten zu stellen. So haben schon Politikergenerationen vor ihm Konsequenzen vermieden.
Die Ereignisse im Finanzministerium muss man nicht einmal besonders eng sehen, um sich zu fragen, warum Gernot Blümel die Flops in Serie nicht peinlich sind. Laut Bundespräsident Van der Bellen hätte er Grund genug dazu: Das Bundesfinanzrahmengesetz vom 19. November sei nicht nur fehlerhaft, sondern auch verfassungswidrig gewesen. Unterschrift verweigert – bis zur Reparatur am 26.11. Da muss man fehlende Nullen in einem Gesetz, Chaos bei Auszahlungen im Frühjahr, Blamage bei einem Antrag an die EU nicht mehr erwähnen.
Auch Margarete Schramböck, Bundesministerin für Digitalisierung(!) und Wirtschaftsstandort, sowie Harald Mahrer, unter anderem Chef der Wirtschaftskammer, scheint nichts mehr peinlich zu sein. 627.000 Euro für eine „Lachnummer“ wie die Webseite Kaufhaus Österreich drei Wochen vor Weihnachten, somit um Monate zu spät, auszugeben, das muss jemandem, der für Digitalisierung und Unternehmen zuständig ist, erst einmal einfallen.
Kommunikation sei die Stärke dieser Regierung, heißt es unverdrossen. Den Menschen Pläne und Handlungen schlüssig und verständlich zu erklären war wahrscheinlich noch nie so wichtig wie jetzt. Schwer zu begründen, warum man dann jemanden wie Arbeitsministerin Christine Aschbacher zu einem TV-Interview schickt, gesehen vergangenen Sonntag. Auf die Frage, warum ein Gesetz nicht schon längst Arbeiten im Home-Office regelt, bekundete sich ihr Verständnis für „Doppelbelastungen“, sprach eher unverständlich von Beschleunigern und Lerneffekten, um die Zuseher dann wissen zu lassen, dass „wir uns in einer Pandemie befinden“.
Wenn man es ungewohnt eng sieht, dann genügt bei Gesundheitsminister Rudolf Anschober das Eingeständnis von „schlechter Arbeit“ und immer wieder Fehlern nicht mehr. Für die desaströse Entwicklung muss er Verantwortung übernehmen, sich für manche Falschaussage der letzten Wochen wenigstens entschuldigen. In welcher Welt sein Regierungskollege Bildungsminister Heinz Faßmann lebt, lässt sich auch nicht ergründen: Hoffentlich bereut er angesichts der schlechten Vorbereitung auf den neuerlichen Lockdown wenigstens seinen Rat, jedem Kind ein eigenes Lernzimmer, getrennt vom Spielzimmer, zur Verfügung zu stellen.
Kleinlich? Soll sein. Worte auf die Goldwaage gelegt? Ja. Sie sind symptomatisch für eine Regierung, die im täglichen Wortschwall die Schuld an allem, was schiefgeht, so lang anderen zuschiebt, bis niemand mehr konkret verantwortlich gemacht werden kann. Das ist in normalen Zeiten schon abträglich. Jetzt, da es um Vertrauen geht, aber verheerend.