«Thaçi symbolisiert die Vergangenheit»
Der Südosteuropaexperte Vedran Dzihic kritisiert die Wahl Hashim Thaçis zum neuen Staatschef Kosovos – und den Umgang der EU mit dem fragilen Staat.
In Kosovo gibt es grossen Widerstand gegen die Wahl von Hashim Thaçi zum Staatspräsidenten. Warum wird der ehemalige Rebellenführer abgelehnt?
Ein Land wie Kosovo braucht im Präsidentenamt eine unabhängige Person mit hohem moralischem und ethischem Anspruch, die von allen Parteien und Gruppen in der Gesellschaft grundlegend akzeptiert werden kann. Hashim Thaçi repräsentiert wie kein anderer die Machtstrukturen und symbolisiert die Vergangenheit. Zudem stehen viele Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen im Raum. Das alles macht seine Kandidatur wenig glaubwürdig und plausibel. In einer funktionsfähigen europäischen Demokratie wäre dies nicht möglich.
Angesichts der derzeitigen tiefen Spaltung der kosovarischen politischen Szene ist die Tatsache, dass die Wahl im Parlament gemacht und der Präsident nicht in allgemeinen Wahlen bestimmt wird, ein grosses Problem. Ein Präsident, der durch Stimmen der regierenden Parteien ins Amt gehievt wird, wird eben kein Präsident aller Kosovaren sein können. Mit der Wahl von Thaçi erweist man Kosovo einen Bärendienst.
Kritiker in Kosovo behaupten, Thaçi wolle unbedingt Staatschef werden, da er danach Immunität geniesse und vom geplanten internationalen Sondertribunal nicht angeklagt werden könnte.
Die Motive von Thaçi sind relativ klar. Er will weiterhin an den Schalthebeln der Macht bleiben. Er muss auch seine Klientel weiterhin bedienen können und braucht dazu eine Machtposition. Und er will sich vermutlich im Präsidentenamt von möglichen Anklagen durch das EU-Sondertribunal absichern. Somit ist sein Anspruch auf das Präsidentenamt eine persönlich motivierte Strategie und nicht eine, die das Gesamtwohl der kosovarischen Gesellschaft im Mittelpunkt des Interesses hat.
Bisher ist es weder der UNO noch der EU gelungen, hochrangige Politiker in Kosovo wegen Kriegsverbrechen zu verurteilen. Wird das Sondertribunal besser funktionieren?
Man soll es der internationalen Gemeinschaft nicht prinzipiell absprechen, aus vergangenen schlechten Erfahrungen zu lernen und mutwillig etwas falsch zu tun. Zu Recht ist man aber in Bezug auf das Sondertribunal in der Bevölkerung skeptisch. Die Erfahrungen mit den internationalen Missionen waren einfach bislang zu schlecht. Sowohl die UNO-Mission (Unmik) als auch die EU-Rechtsstaatsmission Eulex haben bei Weitem nicht das gehalten, was ihrem Mandat nach notwendig gewesen wäre. Beide Missionen wurden im Laufe der Zeit zum Teil des Problems, anstatt die Probleme in der Gesellschaft zu lösen. Die geschichtliche Hypothek für das Sondertribunal ist riesengross und lässt sich nicht aus der Welt schaffen.
Kosovo befindet sich seit Oktober in einer politischen Sackgasse. Die Opposition lehnt ein Abkommen mit Serbien ab, das der serbischen Minderheit grosse Autonomierechte gewährt. Viele Kosovo-Albaner haben Angst vor einer Teilung des Landes. Als Beispiel wird oft auch Bosnien erwähnt. Sehen Sie eine solche Gefahr und einen Ausweg aus der jetzigen Krise?
Die politische Krise in Kosovo lähmt derzeit das ganze Land und ist in der jungen Geschichte des unabhängigen Staates einmalig und einmalig gefährlich. Sie deutet auf einen tiefen Riss in der politischen Klasse, der in meinen Augen kaum zu kitten sein wird. Mit so einer tiefen Kluft zwischen mittlerweile verfeindeten politischen Akteuren geht auch eine Kluft in der Bevölkerung einher. Viele, die von den Regierungsparteien in direkter oder indirekter Form abhängig sind, werden an ihnen festhalten, der Druck jener, die mit der Situation in Kosovo sowohl politisch, aber vor allem auch sozial und ökonomisch nicht zufrieden sind, wird wachsen. Die derzeitige politische Krise wird so zu einem Lackmustest der kosovarischen Staatlichkeit. Das Abkommen mit Serbien ist mit Fallen gespickt. Man muss der Realität ins Auge schauen, und diese ist nun einmal so, dass der serbisch dominierte Norden Kosovos weiterhin de facto ein von Pristina nur minimal kontrollierbares Dasein führt. Belgrad verfolgt weiterhin eine Politik, die als Ausgang am liebsten das bosnische Szenario und eine weitgehende Abkapselung des Nordens von Kosovo anstrebt. Das ist gefährlich und kann dazu führen, dass eine Situation entsteht, wo der Verbund serbischer Gemeinden tatsächlich instrumentalisiert wird, um hinter vorgehaltener Hand politische Prozesse in Kosovo zu blockieren.
Man sollte zumindest auf der internationalen Seite die Lehren aus Bosnien gezogen haben, wo der serbische Landesteil, die Republika Srpska, auch im Jahr 21 nach dem Friedensschluss keine Gelegenheit auslässt, um den Zentralstaat zu desavouieren und eine Obstruktionspolitik zu betreiben.
Ein Vorwurf nicht nur aus Oppositionskreisen lautet, dass die EU und die Regierungen Kosovos und Serbiens über die Köpfe der Menschen hinweg das Abkommen ausgehandelt haben. Ist die EU-Strategie in Kosovo überzeugend?
Die EU verfolgt in der gesamten Region und so auch in Kosovo seit langer Zeit eine reaktive Politik, die vorrangig auf Stabilität ausgerichtet ist. Dazu gehört auch, dass die EU in der Regel zu stark auf die herrschenden Eliten setzt und breitere Prozesse der Entscheidungsfindung – zum Beispiel unter ernsthafter Einbeziehung der Zivilgesellschaft – nicht betreibt. Und letztlich hat in den letzten Jahren die Aussicht auf EU-Integration an Bedeutung verloren. Angesichts der akuten Krisen in der EU wäre es vermessen, tatsächlich von einer Strategie der EU in Kosovo zu sprechen. Da gibt es eine interessante und in sich widersprüchliche Wechselwirkung: Die EU setzt auf die Regierungsparteien, weil diese ihr vorgaukeln, dass nur sie in der Lage sind, die Stabilität und Sicherheit in Kosovo zu garantieren. Und die Regierungsparteien benutzen dann die indirekte oder auch direkte Unterstützung aus Brüssel, um einfach bei ihrem Kurs zu bleiben, der aber die Instabilität in Kosovo vergrössert. Das ist folgenschwer, eine solche Politik der EU kann sich rächen.
Die Wut auf die EU ist in Kosovo gross, weil Brüssel zuletzt auch die Visumspflicht nicht aufgehoben hat. In den letzten Jahren hat die EU den Visumzwang für Staatsangehörige von Moldau und Kolumbien abgeschafft. Wird da nicht mit zweierlei Ellen gemessen?
Es wird leider auch in dieser Frage, die technisch anmutet, stets vor dem Hintergrund politischer Überlegungen entschieden und damit mit zweierlei Mass gemessen. Der Visumszwang hätte schon aufgehoben werden müssen. Mit jedem Tag der Verweildauer Kosovos in diesem Visa-schwarzen-Loch der Region wird die Verbitterung der Menschen grösser und verliert die EU an Unterstützung und Sympathie. Die EU hat Angst vor möglichen massiven Bewegungen der Kosovaren aus dem Land in die EU-Staaten nach dem Wegfall der Visumspflicht. Doch der Fluchtgrund liegt oft im Eingesperrtsein.
Die EU argumentiert, die Behörden Kosovos hätten ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Die Isolation ist eine Ohrfeige, um die Eliten wachzurütteln.
Die herrschenden Strukturen haben ihre Macht in Kosovo bereits seit 1999 gefestigt und einen Staats- und Parteiapparat sowie ein klientelistisches Netzwerk geschaffen, das ihnen ihre Macht garantiert. Zu diesen Machtnetzwerken gehört stets die Verteilung von bestimmten Gütern und Gratifikationen an jene, die sich loyal verhalten. Und damit ist man im Bereich der Grosskorruption angelangt. Wenn einfach durch diese Machtnetzwerke Tür und Tor für korrupte Machenschaften geöffnet wird, bekommt das eine Eigendynamik und kann nur schwer gestoppt werden. Das erklärt die vielen Affären und auch die Tatsache, dass man sich auf der Seite der Herrschenden zu sicher in der eigenen Position fühlt und dann auch nicht davor scheut, Wahlen zu manipulieren oder ähnliche Schritte zu setzen, die dem Kosovo nachhaltig schaden. Insgesamt haben wir damit ein Phänomen von
«State Capture»: der Staat wird also von Machtnetzwerken in Schach gehalten und drängt sich auch im Umgang mit Internationalen Organisationen als unersetzlich auf und schöpft daraus die Kraft.
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