Regierungsmitglieder von Ministerpräsident Dmitri Medwedew, der heute entlassen wurde, wussten bis zum letzten Moment nichts über die Entscheidung, berichteten Quellen in der Zeitung Moskowki Komsomolets.
Ihnen zufolge wusste Medwedew persönlich im Voraus nichts oder erfuhr „nicht früher als der Rest“ von allem. Die Regierung sprach nicht über den bevorstehenden Rücktritt - noch am 13. Januar diskutierte die Regierung Medwedews Arbeitszeitplan bis Ende des Monats und er bereitete sich auf die für den 16. Januar geplante Kabinettssitzung vor.
Die stellvertretenden Ministerpräsidenten und Minister wussten nichts von diesen Plänen, die dringend ins Weiße Haus gerufen wurden, nachdem sie bereits das "Manege"-Gebäude verlassen hatten, wo Präsident Wladimir Putin am 15. Januar eine Botschaft an die Bundesversammlung übermittelte.
https://lenta.ru/news/2020/01/15/podrobno/
Putins Operation Machterhalt
Wladimir Putin spricht zur Nation, schlägt Verfassungsänderungen vor - und plötzlich tritt seine Regierung zurück. Das ist alles Teil eines Plans, der nur einem Ziel dient: dem Machterhalt für die Zeit nach seiner Präsidentschaft.
Am frühen Abend ist klar, dass der 15. Januar der Tag sein wird, der wohl in die Geschichtsbücher eingeht. Es wird das Datum sein, an dem Putin seinen Abgang als Präsident eingeleitet hat - es wird ein Machttransfer sein, dessen genauer Ausgang für die Öffentlichkeit noch unklar scheint. Zwar läuft seine Amtszeit laut Verfassung erst in vier Jahren aus, doch schon jetzt, im Jahr 2020, ordnet er den Übergang.
https://www.spiegel.de/politik/ausl...erhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96
Putins Paukenschlag
Wladimir Putin kündigt eine Verfassungsänderung per Referendum an. Dann tritt die Regierung zurück. Dann schlägt Putin einen neuen Premier vor. Bei Kreml-Astrologen beginnen die Köpfe zu rauchen. Was hat Russlands Präsident vor?
Was in einem westlich-demokratischen Land als „Anzeichen einer politischen Krise“ gedeutet werden müsste und für viel Aufregung sorgen würde, ist in der gelenkten Demokratie nur ein im Kreml sorgfältig vorbereitetes Manöver. Wozu das Ganze? Dazu etwas später.
Zunächst einmal Putins Pläne. Das Volk soll per Referendum der von ihm skizzierten Verfassungsänderung zustimmen, die dem Parlament wieder das Recht einräumt, die Regierung zu bestimmen. Heute ist das russische Parlament ein reiner Abnickmechanismus, die Regierung wird vom Präsidenten vorgeschlagen, entsprechend unpopulär weil nutzlos sind die Parlamentarier. „Parlamentarisch“ wird das System aber auch durch das Referendum nicht: Der Präsident soll laut Putin weiter die zentralen Leitlinien der Politik bestimmen. Außerdem soll ein „Staatsrat“ - dort sitzen unter anderem die Gouverneure und die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern – echte Machtbefugnisse erhalten.
Offenbar scheint man auch im Kreml verstanden zu haben, dass die Aushöhlung des Parlamentarismus in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Ansehen der Volksvertretung derart ruiniert hat, dass die Wahlen 2021 zum Risikofaktor werden könnten. Wenn die Parlamentarier ohnehin über nichts bestimmen, kann man schließlich wählen, wen man will.
Weltenlenker Putin
Was ist nun das wahrscheinlichste Prozedere? Zunächst muss der neue Premierminister installiert werden, der dann – nach einem erfolgreichen Verfassungsreferendum in diesem Jahr – 2021 vom neuen Parlament legitimiert wird. Den Namen, den Putin am späten Abend für den Posten präsentierte, hatte niemand auf dem Schirm: Michail Mischustin heißt der Mann, 53 Jahre alt und die letzten zehn Jahre Chef der russischen Steuerbehörde. Mischustin wirkt wie ein klassischer Technokrat und ist nicht mit heftigen Selbstbereicherungsvorwürfen belastet wie Medwedjew – über dessen Reichtümer existiert ein Youtube-Film, der inzwischen 33 Millionen mal geklickt wurde.
Medwedjew, während seiner Präsidentschaft 2008 bis 2012 Hoffnungsträger der liberaler denkenden Russen, wird auf den Posten von Putins Stellvertreter im Sicherheitsrat „weggelobt“. Aber seine politische Karriere dürfte beendet sein. Medwedjew ist im Volk als Putins willenlose Marionette verschrien und bekam in den wirtschaftlich schwierigen Jahren den Unmut der Bürger zu spüren, während Präsident Putin als Weltenlenker die politischen Gewinne einstrich.
Wählt Putin das „kasachische“ Szenario?
Dass der „Mr. Nobody“ Mischustin, selbst wenn er sich bewähren sollte, auf Putin folgen könnte, wenn dieser 2024 verfassungskonform endgültig seinen Posten als Präsident räumen muss, ist unwahrscheinlich. Eher wird Putin den Russen einen kampferprobten Getreuen aus seinem Umfeld empfehlen, etwa den populären Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Aber wohin dann mit Putin selbst?
Die heutige Ansprache deutet darauf hin, dass Putin Gefallen an der „kasachischen Variante“ gefunden hat: Dort hatte Präsident Nursultan Nasarbajew in diesem Frühjahr nach 29 Jahren Präsidentschaft seinen Posten an einen Getreuen abgegeben, blieb aber gleichzeitig an der Spitze des Sicherheitsrats und verschiedener weiterer Gremien, zudem trägt er den Titel eines „Führers der Nation“. Nasarbajew muss sich nicht mehr wählen lassen, hat aber die Zügel noch in der Hand.
Auch Putin könnte sich in eine ähnlich zarenhafte Position hieven: Selbst wenn er nach 2024 die Führung des Sicherheitsrates abgeben müsste, könnte er als Vorsitzender des Staatsrates am Steuer bleiben. Eben dieser Staatsrat, der bisher nur dekorative Funktion hat, müsste zuvor per Referendum mit echten Befugnissen ausgestattet werden.
Wozu also das Ganze? Richtig: Die Macht des Unentbehrlichen soll auch über das Jahr 2024 verlängert werden.
https://www.cicero.de/aussenpolitik/putin-russland-regierung-ruecktritt-medwedjew-operation-machtverlaengerung