[h=1]Fall Kirkuks hat das Rückrat der irakischen Kurden gebrochenJunge Araber und Turkmenen ziehen in Massen durch die Straßen von Kirkuk. Mit irakischen Flaggen tanzen die Menschen und beglückwünschen den Autokorso, der an Ihnen vorbeizieht.[/h]
Kirkuk / TP - Nachdem die irakische Zentralregierung die Kontrolle über die umstrittene ethnisch durchmischte nördliche Stadt Kirkuk an sich gerissen hat, will die Freude nicht abebben. Auf der anderen Seite, Kurden im nördlichen Teil der Stadt, die über den hastigen Rückzug der Peschmergas kaum Worte finden, dabei ein Ultimatum nach der anderen aussprechen. In der Nacht zum Donnerstag hieß es in sozialen Netzwerken immer wieder, dass man der irakischen Armee samt der pro-iranischen Schiiten-Organisation Haschdi Schaabi bis 4 Uhr Zeit gebe, Kirkuk zu räumen. Ansonsten werde man mit Waffengewalt die Stadt zurückerobern. Die Warnungen und Drohungen, dass zeichnete sich bereits in den frühen Morgenstunden ab, blieben folgenlos.
"Irak ist wieder da", ruft ein älterer Mann in einem langen weißen Gewand. "Jeder wird das bald akzeptieren müssen." ruft er weiter. Ein paar Häuserblocks weiter, wo noch vereinzelte kurdische Fahnen flattern, rauchen junge Männer im einzigen Café Wasserpfeife und reden von Rache. Sie können den demütigenden Verlust einer Stadt nicht akzeptieren, von der sie glaubten, dass sie das Herz eines unabhängigen kurdischen Staates sein wird, den ihre Führer versprochen hatten. "Wir werden nur ein oder zwei Wochen warten, danach werden wir, wenn unsere Führer nicht handeln, dies in die eigenen Hände nehmen", sagt ein junger Mann (24), ein Telefonverkäufer. Er wachte auf und fand seinen Laden am Montag mit Einschusslöchern vor. Seitdem hat er seinen Laden nicht mehr aufgesucht.
Wenige Wochen zuvor hatte die autonome kurdische Regionalregierung des Nordiraks ein Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten, gegen internationale Einwände und Drohungen aus der irakischen Zentralregierung. Sie argumentierte, dass der Moment richtig sei, Gespräche über die Sezession mit Bagdad zu beginnen. Die Kurdische Demokratische Partei des kurdischen Präsidenten Masud Barzani (KPD) gab an, dass die Kurden in einer von den USA angeführten Koalition tatkräftig mit geholfen hätten, die Terrormiliz IS in einige wenige verbliebene Gebiete im Irak und in Syrien zurückzudrängen. Die Regierungspartei erklärte auch, dass die regionale Umwälzung den Kurden Raum dafür gegeben habe, um ihren Traum von einem Staat zu verwirklichen.
Stattdessen droht nun dem größten Verbündeten des Westens selbst eine Zerreißprobe. Die Gräben zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen vertiefen sich immer mehr, überdies auch zwischen den kurdischen Fraktionen und vor allem zwischen den kurdischen Führern. Viele Kurden sind empört darüber, wie schnell sich ihre ehrenhafte Streitmacht aus einer Reihe von umstrittenen Gebieten innerhalb weniger Stunden zurückgezogen haben, die sich die Peshmerga-Kämpfer der Autonomen Region Kurdistan 2014 erkämpft und damit die Terrormiliz IS zurückgedrängt hatten.
Zu diesen Gebieten gehörte die ölreiche Provinz Kirkuk, die als wirtschaftlich lebensnotwendig für einen zukünftigen kurdischen Staat gilt. Die Entscheidung vom Präsidenten der Regionaleregierung Barzani, Kirkuk in das Referendum einzubeziehen, führte dazu, dass die irakische Zentralregierung kurzerhand eingriff. Die Entscheidung Barzanis gab der Zentralregierung die Rechtfertigung für ein Ultimatum, die am vergangenem Sonntag auslief. Am Montag marschierten Truppen und Milizen des Irak in die umstrittenen Gebiete und nahmen mehrere Städte sowie Ölfelder ein, darunter Kirkuk.
Entlang der Autobahn zwischen Kirkuk und Erbil, der Hauptstadt der Regionalregierung, werden durch die Peschmergas derzeit mit Bulldozern weiterhin Straßensperren aufgebaut und Panzer sowie Fahrzeuge in beigefarbener Tarnung postieren sich auf Anhöhen und benachbarten Feldern. Außerhalb von Kirkuk haben auch irakische Truppen eine Reihe von Straßensperren eingerichtet. Das Ergebnis ist, dass die geflüchteten Menschen aus Kirkuk durch eine Frontlinie müssen, die Tage zuvor nicht existierte.
"Wir müssen uns selbst beschützen. Was soll sie davon abhalten, weiter nach Erbil vorzurücken?", erklärt ein Peshmerga-Kämpfer an einem Kontrollpunkt nahe der Hauptstadt Erbil. Er macht sich Sorgen über die berüchtigte Haschdi Schaabi-Miliz, einer pro-iranischen Schiiten-Organisation, die sehr gut bewaffnet und kampferprobt ist. Von den Kurden im Nordirak werden sie als Hauptbedrohung angesehen. "Sie wollen die Häuser unseres Volkes in Schutt und Asche legen und Frauen und Mädchen vergewaltigen", meint der Kämpfer weiter.
Die Gräuelgeschichten die herumkursieren, führten zu einer Hysterie, die einen zweiten Exodus der Bevölkerung von Kirkuk prophezeiten, wenige Tage nach der Flucht der Menschen, als am Montag irakische Panzer in die Stadt rollten. An einem Kontrollpunkt kommen zu Fuß einige Familien mit Rollkoffern, andere haben alles gepackt, von Matratzen über Kühlschränke bis hin zu Betten, und stoppen kurz, um von kurdischen Wohltätigkeitsorganisationen Proviant und Nahrung zu erhaschen. Die Gerüchte sind jedoch übertrieben - keiner der Befragten hatte Plünderungen oder Aggressionen erlebt oder gesehen. Aber Kirkuk selbst ist extrem aufgewühlt.
Videos in sozialen Netzwerken vom Mittwoch zeigen kurdische Jugendliche, die auf ein Fahrzeug der irakischen Polizei aufspringen und die irakische Flagge an sich reißen. Zeitgleich sieht man überall Farbschmiereien, in denen die irakische Armee sowie die pro-iranische Miliz euphorisch begrüßt und gelobt werden. Vor den Toren der Stadt sind Symbole und Statuen, die auch nur annähernd an die Autonomie-Regierung erinnerten, zerstört, aus dem Fundamenten gerissen oder ganz verschwunden. Viele die aus Kirkuk fliehen konnten sind verunsichert. Sie können die Unsicherheit nicht ertragen, weil viele Gerüchte die Runde machen. "Was wir von Fernseh- und Radiosendungen erfahren ist nicht gesichert, niemand sagt etwas genaues, deshalb vermute ich, dass die Autonomie-Regierung Gerüchte verbreitet. Ab diesem Punkt bin ich mir nicht mehr sicher, worauf das hinauslaufen soll. Gibt es überhaupt ein Plan, die auf eine kurdische Gegenoffensive hindeutet?", sagt eine Frau, die mit der Familie in einem Auto sitzt und die Straßensperre passiert. "Was auch immer es ist, ich fühle mich nicht mehr sicher", ruft sie noch beim vorbeifahren aus dem Fenster.
Kurden die in Kirkuk geblieben sind, sagen, dass nur etwa ein Viertel der Bevölkerung in der Stadt geblieben ist. Die Flucht der Bevölkerung am vergangenem Montag, rief Erinnerungen an die brutalen Kampagnen gegen Kurden zurück, den Saddam Hussein, der ehemalige irakische Staatschef, angeordnet hatte. "Ich habe an 1991 gedacht, als Saddams Armee mich und meine Nachbarn mit Gewalt zwangen, unsere Häuser zu verlassen und zu flüchten." erklärt ein Kurde vor seinem leeren Restaurant in Kirkuk. Ein gepanzertes Fahrzeug der irakischen Spezialeinheiten fährt gerade vorbei und er zeigt aufgeregt darauf: "Siehst du das?"
Am allermeisten sind die Kurden über die Regionalregierung enttäuscht und bezeichnen es inzwischen als Verrat. Die Patriotische Union Kurdistans (PUK), die zweitgrößte kurdische Partei, zog sich in der Nacht zu Montag, als die irakische Armee anrückte, aus Kirkuk zurück. Kurz darauf zogen sich auch die Kräfte der herrschenden Regierungspartei (KDP) Barzanis zurück. Im Café sagt ein kurdischer Betreiber, er habe seine Parteimigliedskarte der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) versteckt, weil er Angst vor Schikanen habe. Sein Freund und selbst PUK-Mitglied, macht sich Sorgen darum, dass es einen kurdischen Bürgerkrieg geben könnte. In den 1990er Jahren forderte die KDP unter Barzani, Saddams Truppen auf, die PUK in Erbil zu beseitigen. "Wir Kurden haben eine sehr dunkle Geschichte. Es scheint, dass wir nur gut darin sind, uns selbst zu verraten", erklärt der Freund weiter. "Ich hätte wissen müssen, dass diese Parteien nicht an Unabhängigkeit dachten, nur an ihre eigenen Interessen." Der Unabhängigkeitsvorstoß hatte kurzzeitig Hoffnungen in der Region für Kurden geweckt. Aber jetzt planen viele junge Kurden das nachzuholen, was so viele andere vor ihnen getan haben: gehen. "Wir haben hier keinen Platz mehr. Es ist vorbei für das kurdische Volk, wir sind verloren ", fügt der Freund hinzu.
https://turkishpress.de/news/panora...-das-rueckrat-der-irakischen-kurden-gebrochen