Viele türkische Militärs fühlen sich von der Regierung ausgenutzt, sie sehen in dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen opportunistischen Kriegstreiber. Bei der Beerdigung eines Soldaten macht ein Offizier seiner Wut Luft.
Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein Vaterlandsverräter. In einer beispiellosen Wutrede hat der türkische Armeeoffizier Mehmet Alkan Wahrheiten ausgesprochen, die die Türkei aufwühlen und den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in ungewohnte Bedrängnis bringen. In seiner Ausgehuniform stand er weinend am Sarg seines Bruders Armeehauptmann Ali Alkan und klagte Erdoğan und die Regierung an, den neu aufgeflammten Krieg mit der kurdischen PKK-Guerilla aus rein wahltaktischen Gründen zu führen.
„Ein Sohn dieses Landes, 32 Jahre alt, hatte nicht genug Zeit in diesem Land, in dieser Welt, mit seinen Liebsten. Wer ist der Mörder? Was ist der Grund dafür?“, rief Mehmet Alkan am Sonntag bei der Trauerfeier im südtürkischen Osmaniye, an der 15.000 Menschen teilnahmen. “Warum sagen jene, die bisher über Frieden sprachen, plötzlich: Krieg bis zum Ende?“ Und er sagte, er werde nicht in derselben Moschee wie die angereisten Abgeordneten von Erdoğan islamisch-konservativer Regierungspartei AKP beten.
Eine ähnliche Äußerung eines Offiziers mittleren Rangs hat die Türkei noch nie erlebt. Als die AKP-Vertreter sich in die erste Reihe der Trauernden zu drängen versuchten, wurden sie ausgebuht und unter Faustschlägen davongejagt. Ein Video der Szene wurde im Nu zum Youtube-Renner. Oppositionelle Zeitungen hoben den Oberstleutnant auf ihre Titelseiten, kein Twitter-Hashtag war in der Türkei populärer als
"HepimizYarbayMehmetAlkaniz" - „Wir sind alle Oberstleutnant Mehmet Alkan“.
Echte und unechte Märtyrer
Der Offizier sprach aus, was Menschen aller sozialer Schichten in der Türkei begreifen: wie skrupellos Erdoğan und die AKP agieren, um die bei den Parlamentswahlen am 7. Juni verlorene absolute Mehrheit bei Neuwahlen zurückzugewinnen. Viele Türken glauben, dass Erdoğan den Krieg gegen die PKK forciert, um die AKP als Retter aus Chaos und Gewalt erscheinen zu lassen. Er lässt derzeit keine Gelegenheit aus, das Volk auf weitere „Märtyrer“ - im Kampf gefallene Soldaten - einzustimmen. Energieminister Taner Yildiz hatte sogar erklärt, er selbst wolle "für Religion, Nation und Vaterland" als Märtyrer sterben, sich aber natürlich nicht zum Armeedienst gemeldet.
Da auch regierungsnahe Medien den Vorfall von Osmaniye nicht komplett ignorieren können, schmähen sie Mehmet Alkan inzwischen als Unterstützer der PKK, Anhänger der alevitischen Religion und Vasall von Erdogans Erzgegner, dem Islamprediger Fethullah Gülen. Die Gendarmerie leitete ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein.
"Aufschrei der türkischen Armee"
Doch Mehmet Alkan ist längst zu einer Ikone der Friedenssehnsucht in der Türkei geworden. Der linkskemalistischen Zeitung Cumhuriyet sagte ein Experte für nationale Sicherheit, dass der Wutausbruch des Oberstleutnants in Wahrheit „der Aufschrei der türkischen Armee“ sei, die sich für politische Manöver missbraucht fühle.
Tatsächlich war dies nicht das erste Mal, dass die Beerdigung von der PKK getöteter Soldaten zum Fanal gegen die AKP und Erdoğan wurde. Mehrfach bereits wurden AKP-Abgeordnete und –Minister unter „Mörder!“-Rufen von Friedhöfen verjagt. Die Rebellion des Mehmet Alkan könnte nur der Vorbote weit mächtigerer Tumulte sein. Jeden Tag werden Soldaten zu Grabe getragen; jedes Begräbnis wird die Spannung im Land erhöhen.
Das ist ein Szenario, das Präsident Erdoğan mit allen Mitteln zu verhindern versuche, heißt es aus seinem Palast, und die Religionsbehörde Diyanet habe die türkischen Imame angewiesen, über den Wert des Märtyrertums zu predigen. Sollte der Unmut im Militär und im Volk wachsen, wird die AKP das spätestens bei den Wahlen zu spüren bekommen. Deshalb sollen Umfragen jetzt der AKP helfen herauszufinden, warum sich die Wut über die toten Soldaten nicht nur gegen Kurden, sondern immer stärker auch gegen die AKP richtet. Die Antwort gab bereits Oberstleutnant Mehmet Alkan: „Jene, die davon sprechen, dass sie Märtyrer werden wollen, leben in Palästen mit 30 Bodyguards und gepanzerten Limousinen. Das kann nicht sein! Lasst diese Politiker statt der Soldaten kämpfen!“
Korrektur: Im Vorspann war die Rede von dem "Premier" Recep Tayyip Erdoğan. Tatsächlich ist Erdoğan seit Ende 2014 Präsident der Türkei. Wir bitten um Entschuldigung.
Frankfurter Rundschau - Ein Offizier bringt Erdogan in Bedrängnis