Ägiptische Journalistin über die Probleme der islamischen Frauen die
in Europa leben:
FÜR EINE NEUE THEOLOGIE
VON NAHED SELIM
Von Selim, Nahed
Selim, 52, ist gebürtige Ägypterin und lebt als Publizistin in den Niederlanden. Soeben ist ihr Buch "Nehmt den Männern den Koran!" im Piper Verlag erschienen.
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Das in Deutschland wie in den meisten westlichen Ländern übliche multikulturelle Modell ist gescheitert. Es stellte an die Neuankömmlinge nur geringe Forderungen, erlaubte ihnen aber im Gegenteil viele Freiräume für ihre Lebensweise und ihre Sitten. Nachdem ein großer Teil der Migranten daran gescheitert ist, sich die Sprache und Kultur der Aufnahmeländer zu eigen zu machen, haben die nicht abgelegten furchtbaren regionalen Bräuche wie Ehrenmorde, Zwangsehen, Frauenbeschneidung und häusliche Gewalt zur Bildung einer Art von Parallelgesellschaft geführt, zu Enklaven der Rückständigkeit und der Armut, die nur ganz wenige Berührungspunkte mit der demokratischen Mehrheitskultur haben. Zwischen beiden Denkweisen gibt es kaum Vermittlungen. Jüngstes Beispiel: Die Todesdrohung, die muslimische Fanatiker gegen den zum Christentum konvertierten Abdul Rahman ausgestoßen haben.
Immer wieder führt ein atavistisches Verständnis des Islams zu gefährlichen Friktionen. Der europäische Islams in seiner reaktionären Gestalt stammt aus dörflichen Verbänden. Wir müssen aber zu einem neuen, urbanen, humanistischen Verständnis des Islams gelangen. Die Geschichte des Islams bisher ist eine der Falschübersetzungen, der bewussten Manipulationen und grotesken Fehlinterpretationen. Das gilt es zu korrigieren.
Meine eigene Mutter, die in Kairo in einer liberalen, modernen Familie aufgewachsen war und nach ihrer Heirat gezwungen wurde, meinem Vater in ein Dorf im Nildelta zu folgen, erlebte das Leben dort als erstickend und repressiv. Sie konnte sich nur schwer in dem großen Familienhaus mit den Schwiegereltern und der gesamten Verwandtschaft einleben, die dort unter dem autoritären Regime der Schwiegermutter (meiner Großmutter) zusammenlebten. Dasselbe Schicksal erwartet auch in Westeuropa Jahr für Jahr Zehntausende Importbräute, die oft hierher geholt werden, um dem Ehemann und seinen Eltern als Dienstmädchen zur Verfügung zu stehen. Meine Mutter begehrte vor einem halben Jahrhundert gegen diese Situation auf, lief aus dem Haus weg und weigerte sich zurückzukehren.
Ist die Schlechterstellung der Frau gegenüber ihrem Mann und dessen Verwandten im Islam zu finden? Aber sicher! Der Koran und die Überlieferungen des Propheten verpflichten sie zum völligen Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann; im Verweigerungsfall darf er sie zurechtweisen und sogar züchtigen; ohne seine Zu-
stimmung darf sie nicht das Haus verlassen; sie darf nicht ohne
Begleitung reisen und wird immer in der Angst leben, er könne, falls ihm ihr Verhalten nicht gefällt, noch eine oder mehrere Nebenfrauen heiraten. Trotz aller Regeln und Vorschriften lehnte sich meine Mutter damals gegen ihre Situation auf und bezog sich dabei auf wieder andere Vorschriften, die ebenfalls im Koran stehen. Nämlich auf die Verpflichtung des Mannes, gut für seine Frau zu sorgen und sie gut zu behandeln. Das ist Kultur beziehungsweise der Spielraum, der eine individuelle Auslegung möglich macht.
Man kann sich fragen, inwieweit die Eifersucht des Propheten bei der Offenbarung bestimmter Koran-Passagen eine Rolle gespielt hat, beziehungsweise inwieweit das ungehobelte Benehmen anderer Männer gegenüber den Frauen des Propheten eine solche Offenbarung notwendig machte, und schließlich, was ist überhaupt eine Offenbarung?
In der fraglichen Passage ging es um das Verbot für andere Männer, sich den Ehefrauen des Propheten persönlich zu nähern oder mit ihnen zu sprechen. "Und wenn ihr sie (seine Frauen) um irgendetwas zu bitten habt, so bittet sie hinter einem Vorhang. Das ist reiner für eure Herzen und ihre Herzen. Und es geziemt euch nicht, den Gesandten Gottes zu belästigen, noch (geziemt es euch), seine Frauen jemals nach ihm zu heiraten. Wahrlich, das würde vor Gott eine Ungeheuerlichkeit sein." (33:53)
Das Verbot für die Witwen des Propheten, sich wiederzuverheiraten, traf vor allem Aischa hart, die jüngste seiner Ehefrauen, da sie bei seinem Tod erst 18 Jahre alt und kinderlos war.
Aber es gefiel den islamischen Theologen fast dreizehnhundert Jahre, die Frauen auf diese Weise zu täuschen und sie zur Gefangenschaft in ihrem eigenen Haus zu verurteilen. Sie blieben dabei, dass Frauen und Männer streng voneinander getrennt leben mussten und dass Frauen sich weit vom öffentlichen Leben entfernt halten sollten.
Musste die Frau doch einmal unbedingt das Haus verlassen, etwa um den Arzt oder Verwandte aufzusuchen, dann verhüllte sie sich mit Schleiern und Tüchern, damit kein anderer Mann sie zu Gesicht bekäme. Das wiederum ist eine Fehlinterpretation der Koran-Stellen zu den Kleidungsvorschriften, die sich durch die Jahrhunderte zieht und bis zum heutigen Tag andauert - etwa in der indoktrinierenden Übersetzung des Verses 24:31, wie sie das Islamische Kulturzentrum der Niederlande (ICCN) in guter männlicher Tradition verwendet. Dort steht, dass Frauen ihren Schmuck nicht in der Öffentlichkeit zeigen dürfen:
"Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten und dass sie nicht ihren Schmuck (sina) zur Schau tragen, es sei denn, was davon sichtbar ist. Und dass sie ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Schönheit (sina) nicht öffentlich zeigen, sondern nur ihren Ehegatten ..."
In dieser Textstelle wird ein und dasselbe Wort, das arabische "sina", zunächst als Schmuck, dann aber als Schönheit übersetzt, was
eine falsche, interpretierende Übersetzung ist, die bislang alle traditionellen Koran-Exegeten so vorgenommen haben. Wenn es verboten ist, seine Schönheit in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen, dann muss auch der ganze Körper bedeckt werden, so lautete ihre Argumentation. Dafür stützen sie sich auf die Worte eines gewissen Ibn Abbas, eines Zeitgenossen des Propheten, der beim Tod Mohammeds 13 Jahre alt war. Die Überlieferung wurde von anderen Erzählern über mehrere Generationen weitergegeben, ehe sie niedergeschrieben wurde. Muss man es nicht sonderbar finden, dass die Kleidungsvorschriften für die muslimischen Frauen bei den islamischen Völkern auf das Hörensagen von einem Zeitgenossen des Propheten zurückgeführt werden statt auf eine eindeutige Passage im Koran, der doch die wichtigste Quelle für den Islam darstellt?
In den heute gern verwendeten Übersetzungen steht das Wort "Schleier"; aber das arabische Wort in dieser Stelle lautet "Chimar", was damals Umschlagtuch bedeutete. Es ist auch bekannt, dass Kopftücher und Schleier zu dieser Zeit auf der Arabischen Halbinsel nicht üblich waren, sondern später eingeführt wurden, nachdem die Araber diese Mode von anderen Völkern übernommen hatten. In Syrien etwa trugen christliche Nonnen und adlige Damen zum Zeichen ihrer Vornehmheit eine Kopfbedeckung.
All diese Fehlinterpretationen haben der islamischen Welt einen enormen Rückstand eingebracht und sie der Kraft, der Fähigkeiten und der Talente der Hälfte ihrer Bevölkerung beraubt. In einigen Ländern hoben Mitte des 19. Jahrhunderts Koran-Gelehrte zumindest die strikte räumliche Trennung von Mann und Frau auf. In anderen Ländern wie Saudi-Arabien, aber auch unter radikalen Muslimen in den Einwanderungsländern lebt sie fort. Einig sind sich die männlichen Islam-Gelehrten hingegen bis heute beim angeblichen Gebot des schamhaften Verschleierns.
Wenn Frauen ins Gerede kommen, wird die Ehre der Familie verletzt. Probleme mit der Ehre können bis hin zu Ehrenmorden führen, je nachdem, wie orthodox eine Familie an Traditionen und der "eigenen Identität" festhält!
Auch in den Niederlanden ist dieses Problem bekannt. Etwa 70-mal im Jahr betrifft es Frauen mit oder ohne tödliche Folgen. Gleichzeitig weigern sich immer mehr Frauen, weiterhin die Gebräuche ihrer Herkunftsregion oder der ihrer Eltern zu übernehmen. Von den Männern verlangt die muslimische Gemeinschaft meist nicht, dass sie unberührt bleiben; von den Frauen wird dazu auch noch ein unbescholtener Name erwartet. So wird die Bedeutung der Unberührtheit zu ungeheuren Dimensionen aufgeblasen. Mädchen und ganze Familien leben voller Angst, das Jungfernhäutchen könne zerstört werden. Manche Mädchen, die dennoch Sex vor der Ehe haben, ziehen anale oder orale Praktiken vor, um ihr Hymen intakt zu erhalten, andere lassen es operativ reparieren. Aus medizinischer Sicht ist es ein Märchen, dass bei jedem Mädchen bis zum ersten Geschlechtsverkehr das Jungfernhäutchen intakt sei.
Es gibt wichtigere Dinge als die Unberührtheit ihrer Töchter, mit denen sich die muslimische Gemeinschaft auseinandersetzen sollte. Wenn Eltern wirklich gute Eltern sind, wird ihnen das Glück ihrer Töchter, ihr Erfolg im Leben und ihre gute Zukunft mehr bedeuten als die Meinung von Verwandten und Freunden.
Wir brauchen eine neue Theologie; eine Theologie, die sich wirklich für die Menschen interessiert, statt törichte, überlebte Traditionen aufrechtzuerhalten; eine Theologie, die Frauen als Seelenverwandte der Männer sieht und behandelt, die eine Gesellschaft auf der Grundlage allgemeiner humanistischer Prinzipien aufbauen möchte, die eindeutig im Islam vorhanden sind - allgemeine humanistische
Prinzipien, die von den Frauenhassern unter den Theologen vernachlässigt werden.
Was aber sind denn diese allgemeinen humanistischen Prinzipien des Islams? Theoretisch und spirituell erklärt der Koran, dass alle Menschen gleich sind, dass alle aus ein und derselben Seele erschaffen wurden. Theoretisch und spirituell gibt es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen den Konfessionen oder den Rassen und Hautfarben. Im Prinzip ist Gott gerecht und barmherzig. Das Problem mit dem Islam liegt freilich darin, dass die Prinzipien, die wesentlichen Werte des Islams ganz anderes aussagen, als es die Regeln, die Gesetze und Vorschriften (das heißt die Scharia) verkünden. Die praktischen Vorschriften und Regeln diskriminieren Frauen, Ungläubige und Andersgläubige wie den Konvertiten Abdul Rahman. Diese Regeln unterscheiden zwischen freien Menschen und Sklaven, sie verhängen Körperstrafen, die weit von dem entfernt sind, was wir unter barmherzig oder gerecht verstehen können.
Religionen, auch der Islam, taten, was sie tun konnten, um die Menschen innerhalb der Einschränkungen der bestehenden Kulturen zu zivilisieren. Aber Zivilisation ist ein Prozess, der nie aufhört. Es ist absurd, den Zivilisationsprozess an einem bestimmten Zeitpunkt einzufrieren und zu glauben, dies sei die Endstation.
Der Mensch entwickelt und verändert sich ständig und verändert so auch seine Lebensbedingungen. Religion macht den Men-
schen bestimmte ethische Prinzipien bewusst. Das Ethische beginnt vielleicht mit der Religion, geht aber weiter und tiefer, als die Religion jemals kommen kann. Deshalb sind wir der Religion dankbar, dass sie die Menschheit auf wichtige menschliche Werte aufmerksam gemacht hat. Der Islam hat den Muslimen die Richtung gezeigt, die Route vorgezeichnet und die ersten Schritte auf dieser Strecke ermöglicht. Aber wir tun uns und dem Islam Unrecht, wenn wir bei diesen ersten Schritten stehenbleiben.
In dieser Zeit und in diesem Teil der Welt verwurzelt zu sein ist mein Ziel. Schweigen wäre Verrat. Es gibt genug Argumente für meine Überzeugung, dass unsere Zeit die beste Zeit ist, in der ein Mensch leben kann; aber auch für das Gegenteil lassen sich Argumente finden. Schließlich ist jedes Zeitalter für den Menschen, der in ihm lebt, das beste Zeitalter. Wir leben heute und nicht ein Jahrhundert früher oder später. Deshalb müssen wir uns auch an die Herausforderungen unserer Zeit heranwagen.
Wir stehen heute vor ganz anderen Voraussetzungen als die ersten Muslime vor vierzehnhundert Jahren. Aber wir als europäische Muslime sind auch dafür verantwortlich, den Frieden in unserer Umgebung zu fördern, harmonisch mit anderen zusammenzuleben, von anderen zu lernen und ihnen die Möglichkeit zu geben, auch von uns zu lernen. Mein Ziel ist es, mich in dieser gastfreundlichen Umgebung unentbehrlich zu machen, die mir alle Möglichkeiten zu meiner Entfaltung geboten hat.
Ich will nicht geduldet oder toleriert werden, ich will unentbehrlich sein. Das ist mein Ehrgeiz für mich und für alle intelligenten Muslime, die dies ebenfalls begriffen haben.
Aus dem Niederländischen von Anna Berger