Genozid ist kein Zahlenspiel
Benjamin Netanjahu und der Kolumnist Bret Stephens versuchen, mit zynischen Argumenten den Völkermordvorwurf gegen Israel zu entkräften. Sie machen es sich zu leicht: Whataboutism und konkrete Opferzahlen sind keine passenden Indikatoren
Ende 2023 hat Südafrika eine Klage beim Internationalen Gerichtshof eingereicht, in der es Israel Verletzungen der Völkermordkonvention vorwirft. Ich wurde und werde seitdem regelmäßig gefragt, ob Israel einen Genozid begeht, und kann vorerst nur eine vermutlich unbefriedigende Antwort geben: Der dahingehende Vorsatz lässt sich in der Regel nur schwer nachweisen. Die von Südafrika bisher genannten Zitate israelischer Politiker sind meiner Meinung nach nicht eindeutig genug, weil sie sich auf die Terrororganisation Hamas beziehen oder aus dem Kontext gerissen wurden.
Seitdem ist aber viel passiert, im Krieg wie auch auf juristischer Ebene: Südafrika hat – wie verfahrensrechtlich vorgesehen – seinen Vorwurf schriftlich näher begründet, Israel hat nun bis Jänner 2026 Zeit, darauf zu antworten – erst dann werden die Schriftsätze beider Staaten öffentlich einsehbar –, gefolgt von den mündlichen Verhandlungen und, eines fernen Tages, einem verbindlichen Urteil.
So viel zur völkerrechtlichen Ebene. Daneben gibt es schon jetzt so einige politische Argumente, die Israel keinen Gefallen tun. So sprach Premierminister Benjamin Netanjahu in einem Interview mit dem US-Sender Fox News eben erst davon, dass Israel einen "schlechten Job" machen würde, wenn es wirklich einen Völkermord begehen wollte, denn dann würde es noch viel mehr Tote geben. "Denn wir hätten ja im Grunde genommen die gesamte Bevölkerung von Gaza auslöschen können", sagte Netanjahu und verwies außerdem auf Nahrungsmittelhilfe. Wenig später wiederholte er diesen zynischen Talking-Point vor israelischen Journalisten mit einer Zeitangabe: "Einen Nachmittag" hätte ein Genozid am palästinensischen Volk gedauert.
Benjamin Netanjahu und der Kolumnist Bret Stephens versuchen, mit zynischen Argumenten den Völkermordvorwurf gegen Israel zu entkräften. Sie machen es sich zu leicht: Whataboutism und konkrete Opferzahlen sind keine passenden Indikatoren
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