Streitgespräch zwischen zwei Völkerrechtlern: Begeht Israel einen Völkermord?
Herr Talmon, Herr Ambos, begeht Israel in Gaza einen Völkermord an den Palästinensern?
Ambos: Die Frage kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Es besteht Übereinstimmung darin, dass die Palästinenser eine geschützte Gruppe im Sinne der Genozidkonvention sind. Es besteht auch Übereinstimmung über die objektiven Tathandlungen, etwa die Tötung von Mitgliedern der Gruppe. Das Kernproblem ist, dass es für einen Völkermord die Absicht geben muss, diese geschützte Gruppe zerstören zu wollen. Wir haben keine Situation wie die Wannseekonferenz, wo ein Staat seine klare Absicht mitteilt. Wir müssen auf Indizien zurückgreifen. Und dafür hat der Internationale Gerichtshof (IGH) einen sehr anspruchsvollen Standard formuliert: Die genozidale Absicht muss die „einzig vernünftige“ Schlussfolgerung sein, die aus den vorhandenen Beweisen gezogen werden kann.
Zu welchem Schluss kommen Sie nach diesem anspruchsvollen Maßstab?
Ambos: Die Dynamik des Kriegsgeschehens und damit zusammenhängende Umstände, etwa die große Zahl getöteter Kinder, sind meiner Meinung nach Indizien, die auf diese Absicht hinweisen. Aber ich bin noch nicht so weit zu sagen, das ist ein Genozid. Die bisherigen Berichte, auch der letzte Bericht der UN, sind im entscheidenden Punkt, nämlich der genozidalen Absicht, zu dünn.
Talmon: Ich beantworte die Frage, ob in Gaza ein Völkermord stattfindet, klar mit Nein. Auch bei Staaten gilt: im Zweifel für den Angeklagten. Solange diese Zweifel – die auch Kai teilt – bestehen, also kein Völkermord nachgewiesen werden kann, liegt rechtlich auch kein Völkermord vor.
Was liegt Ihrer Meinung nach vor?
Talmon: Wir sehen Kriegsverbrechen, wir sehen auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit – aber keinen Völkermord.