Nachdem die Schweiz beschlossen hat, der EU gegenüber auf Konfrontationskurs zu gehen, zirkulieren die wildesten Zahlen zum Kräfteverhältnis zwischen der Schweiz und der EU und zu den gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Ein leiser Grössenwahnsinn scheint sich der helvetischen Entscheidungsträger zu bemächtigen, nicht nur der Initiativ-Befürworter, welche die Sanktionsmöglichkeiten der EU jetzt so klein wie möglich reden wollen, sondern auch der breiten öffentlichen Meinung. Wie sieht das Kräfteverhältnis de facto aus? Im folgenden ein paar Zahlen:
1. Die Handelsbeziehungen: Die Schweiz und die EU sind durch regen Aussenhandel verflochten. Im Jahr 2012 beliefen sich die Waren-Einfuhren aus der EU-27 in die Schweiz auf knapp 140 Milliarden Franken. Die Exporte aus der Schweiz in die EU-27 betrugen rund 118 Milliarden. Wir sind also in der Tat ein sehr guter Kunde der EU (nach den USA und China das drittwichtigste Exportland), und die 27 EU-Länder haben zudem unter dem Strich einen Handelsüberschuss von gut 20 Milliarden erzielt. Kann man daraus schliessen, dass der Aussenhandel mit der Schweiz für Europa wichtiger ist als der Aussenhandel mit der EU für uns? Leider nein, sehr im Gegenteil.
Das ergibt sich zunächst aus dem Anteil der Exporte an den Gesamtausfuhren. Die Ausfuhren in die Schweiz belaufen sich auf rund 8 Prozent des EU-27-Warenexports (im Jahr 2010 waren es genau 7,8 Prozent). Für das Exportland Schweiz hingegen sind die Ausfuhren in die EU ungleich wichtiger: Im Jahr 2012 machten sie 56 Prozent aller ausfuhren aus. Die EU hat also für den Schweizer Export in etwa siebenmal mehr Gewicht als die Schweiz für den EU-Export.
Ein noch grösseres Ungleichgewicht zu Ungunsten der Schweiz herrscht bei der Bedeutung des Exports für die Gesamtwirtschaft. Die 118 Milliarden Schweizer Warenausfuhren in die EU stellen etwa 20 Prozent des helvetischen BIPs dar. Die 140 Milliarden EU-Exporte in die Schweiz stellen nur 0.9 Prozent des EU-27-BIPs dar, das sich 2012 auf 15,6 Billionen Franken belief. Wenn sich über Nacht aufgrund von Retorsionsmassnahmen der Warenaustausch zwischen der EU und der Schweiz halbierte, so würde die CH-Wirtschaft um 10 Prozent schrumpfen und in eine katastrophale Rezession stürzen. Die europäische Wirtschaft verlöre lediglich 0,45 Prozent, würde also zwanzigmal weniger in Mitleidenschaft gezogen. Ein Wirtschaftskrieg zwischen der Schweiz und der EU, wäre für die Schweiz absolut vernichtend. Für die EU wäre er sicher nachteilig, und sie wird ihn zu vermeiden versuchen. Für das Gesamtwachstum der EU-Volkswirtschaften wäre er jedoch kaum spürbar.
2. Die Migrationsströme: Gemäss Ausländerstatistik lebten im August 2013 genau 1 230 513 EU-Bürger in der Schweiz. Umgekehrt lebten knapp 440 000 Auslandschweizer in der EU. Das bedeutet zwar, dass fast dreimal mehr EU-Bürger in der Schweiz niedergelassen sind als umgekehrt, doch muss man bei diesem Verhältnis die Bevölkerungszahlen der Herkunftsländer mitberücksichtigen. Die EU-27 hat eine Wohnbevölkerung von rund 500 Millionen Bürgern, die Schweiz zählt 8 Millionen Bewohner. Wenn die EU morgen sämtliche Schweizer heim schicken würde, so würde die Wohnbevölkerung in ihrem Heimatland schlagartig um 5,5 Prozent zunehmen. Wenn umgekehrt die Schweiz alle EU-Bürger ausweisen würde, so nähme die Bevölkerung in der EU-27 um 0,25 Prozent zu – ein fast vernachlässigbarer Zuwachs.
3. Die Grenzgänger: Einer der am häufigsten genannten Gründe, weshalb die EU auf gute Beziehungen zur Schweiz erpicht sein soll, bildet die Gruppe der Grenzgänger, die im dritten Quartal 2013 genau 277 356 Personen umfasste. Nach der Zahlungsbilanz-Statistik der Nationalbank erfolgten 2012 Lohnzahlungen in Höhe von 20 Milliarden Franken an diese Arbeitnehmer – eine Geldfluss, auf den die Schweiz-Anrainer Deutschland, Frankreich und Italien sicherlich ungern verzichten würden. Für die Grenzregionen sind diese Arbeitsplätze ohne Zweifel von vitalem Interesse. Auch hier ist jedoch festzustellen, dass sie gemessen am Gesamtarbeitsmarkt der jeweiligen Länder von relativ geringem Gewicht sind. Nehmen wir das Beispiel von Frankreich, das mit knapp 150 000 „frontaliers“ mit Abstand am meisten Grenzgänger stellt: Wenn man diese Zahl in ein Verhältnis zu den 25 Millionen französischen Erwerbstätigen setzt, dann bilden die Grenzgänger davon lediglich 0,6 Prozent. Im Fall Italiens sind es 0,28 Prozent, im Fall Deutschlands 0,14 Prozent. Das bedeutet nicht, dass insbesondere Frankreich und Italien, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, nicht ein Interesse daran hätten, den Grenzgängern ihre Arbeitsplätze zu sichern. Von strategischem volkswirtschaftlichen Gewicht sind jedoch auch die Grenzgänger für keinen unserer Anrainerstaaten.
Letztlich führen alle statistischen Betrachtungen immer wieder auf dieselbe Grundgegebenheit zurück: Die Schweiz ist für die europäische Wirtschaft in vielerlei Hinsicht ein wertvoller Partner, aber die Dimensionen der beiden Wirtschaftsräume sind dermassen unterschiedlich, die EU-27 mit ihrem BIP von 15,6 Billionen ist so viel grösser als die Schweiz mit ihren 0,6 Billionen, dass das Verhältnis zur EU für die Schweiz massiv viel wichtiger ist als das Verhältnis zur Schweiz für die EU. Bisher hat die Schweiz sicherlich davon profitiert, dass grenznahe Regionen wie zum Beispiel Baden-Württemberg, das sehr enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem Nachbarland unterhält, für gute Beziehungen lobbyieren. Dass innerhalb der EU die Interessen sehr unterschiedlich sind und dass es unzählige Vetomächte gibt, hat bisher die helvetische Position gestärkt. Nationale Entscheidungsträger und die EU-Kommission dürften gute Beziehungen zur Schweiz jedoch als von sehr untergeordneter Relevanz bewerten. Insofern kann unserem Land nichts Schlechteres passieren, als dass die bilateralen Beziehungen, wie das nun unweigerlich geschehen wird, zur ausdrücklichen Chefsache werden.