13.02.07
Krieg um die türkische Vergangenheit
Historiker: Genozid an den Armeniern ist "eines von fünf Tabus, auf denen die türkische Republik errichtet wurde"
Journalisten und Schriftsteller werden regelmäßig vor den Kadi gezerrt. Wissenschaftliche Veranstaltungen zum Thema abgewürgt. "Wir müssen diesen Verrat und die Verbreitung der Propaganda gegen die Türkei durch Menschen, die diesem Land angehören, beenden", sagte etwa Justizminister Cemil Cicek im Jahr 2005 über eine Historiker-Konferenz, zu der auch Kritiker der offiziellen türkischen Haltung zum Genozid an den Armeniern eingeladen waren. Der "Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation" (© Cicek) wurde einen Tag später abgesagt. Sind da nur unverbesserliche Realitätsverweigerer am Werk, die einer politischen Tradition folgen?
Man könnte denken, die Türkei habe schon immer offensiv den Völkermord an den Armeniern geleugnet und alle, die dagegen sprechen, bekämpft. Der türkische Historiker Taner Akcam bricht mit dieser Annahme, spricht von einer Radikalisierungspolitik der türkischen Regierung und einer aggressiven Kampagne. Der Völkermord an den Armeniern sei zuvor kein Thema gewesen, niemand habe darüber geredet. Seine These: Der Genozid sei eines von fünf Tabus, auf denen die türkische Republik errichtet wurde. Im Kern ginge es bei allen Tabus darum, den heterogenen Charakter der türkischen Gesellschaft zu leugnen.
Dazu zählt Akcam die Existenz von Klassenunterschieden, die Existenz der Kurden, die Existenz einer islamischen Kultur, den Völkermord an den Armeniern und die wahre Rolle der Streitkräfte in der Türkei, die eben diese Tabus schützen sollen. Gegen die Erschütterung einiger dieser Staatsdogmen seien Vorkehrungen getroffen worden. Im Falle des Genozids an den Armeniern aber erst zu einem Zeitpunkt, wo das Tabu gelockert wurde. Erst nachdem das US-Repräsentantenhaus im Jahr 2000 den Völkermord als historische Tatsache anerkannt habe, verhärtete sich, so die These, die Politik der türkischen Regierung.
Genozid-Behauptung
2002 schuf der nationale Sicherheitsrat dann ein "Koordinationskomitee zum Kampf gegen die grundlosen Genozid-Behauptungen". Schulkinder sollten über die "armenischen Lügen" aufgeklärt werden. Die Armenier wurden in den Schulbüchern als "schändlich" bezeichnet und dehumanisiert. Allerdings reagierte der Lehrkräfteverband und kritisierte den Lehrplan als rassistisch und chauvinistisch.
Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren in den Lehrbüchern die historischen Begebenheiten nicht einmal erwähnt worden. Gleichzeitig startete das Erziehungsministerium aber einen Aufsatzwettbewerb zum Thema "Armenischer Aufstand und rebellische Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs".
2004 ging die Regierung, da schon unter Premier Recep Tayyip Erdogan, ein weiteres Mal in die Offensive. Angesichts internationaler Kritik und zunehmendem Druck seitens der EU kämpfte man mit Büchern wie "Armenier: Ausweisung und Migration" um die Definitionshoheit. Laut Akcam scheute die offizielle Geschichtsschreibung keine Mittel: Da wurde falsch übersetzt, ausgelassen, Daten verändert und selektiv zitiert. 2005 forderte Erdogan eine Entschuldigung von Großbritannien wegen eines Weißbuchs, das im ersten Weltkrieg veröffentlicht worden war
Tatsachen prüfen
Als der Premier nun die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink verurteilte, blieb da ein schaler Nachgeschmack. Dink war mehrmals verklagt und verurteilt worden, weil er sich kein Blatt vor den Mund nahm und kein Regierungspolitiker hatte protestiert. Erdogan hatte hingegen für Forschungskommissionen plädiert, ganz so, als wäre die Ermordung von hunderttausenden Armeniern durch das osmanische Reich keine historische Tatsache, sondern noch zu klären.
Im politischen Krieg um die Vergangenheit geht es letztlich um Demokratisierung, meint Akcam. Einige Teilsiege gibt es, wie die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, den Protest der Lehrer und ein Einlenken bei den Schulbüchern. Aber auch in der Vergangenheit gab es durchaus Progressives. So wurden bei den Istanbuler Prozessen (1919 bis 1921) die Hauptverantwortlichen für den Genozid verurteilt, etwa der Großwesir Talaat Pascha - er floh nach Deutschland. Die Prozesse waren der erste Versuch, Verbrechen eines Staates zu ahnden und Menschenrechtsprinzipien mittels internationaler Strafgerichtsbarkeit zum Durchbruch zu verhelfen.