Lysimachos
Spitzen-Poster
Die Türkei betreibt offenbar ein Entführungsprogramm, bei dem der Geheimdienst MIT weltweit nach politischen Gegnern sucht, die dann in türkische Gefängnisse verschleppt werden. Das ergeben gemeinsame Recherchen von Frontal21 und acht internationalen Medien, koordiniert von Correctiv. Für die Recherchen wurden Überwachungsvideos gesichtet, interne Dokumente ausgewertet sowie Augenzeugen und Opfer befragt. Mehrere Betroffene erheben den Vorwurf, sie seien in Geheimgefängnissen gefoltert worden.
Berichte von geheimen Folterzentren
Gegenüber Frontal21 und CORRECTIV berichten zwei Männer unabhängig voneinander über geheime Folterzentren in der Türkei. Sie sagen übereinstimmend, auf offener Straße in der Türkei in dunkle Transporter gezerrt und mit einem Sack über dem Kopf in ein Geheimgefängnis gebracht worden zu sein. In Verhören unter Folter sei ihnen vorgeworfen worden, Anhänger des Predigers Fetullah Gülen und Terroristen zu sein. Ziel der Misshandlungen sei es, falsche Zeugenaussagen für Prozesse gegen Gülen-Anhänger zu erpressen, sagen die Männer. Beide berichten, sie seien nach wochenlanger Folter freigelassen worden, nachdem sie sich zum Schein für Aussagen als "anonyme Zeugen" bereit erklärt hätten. Sie konnten sich jedoch ins Ausland absetzen.
Nach dem Putschversuch im Juli 2016 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Anhänger der Gülen-Bewegung zu Terroristen erklärt und ihnen mit Verfolgung im In- und Ausland gedroht. "Die Gülenisten, die geflohen sind und sich jetzt in Sicherheit wähnen, bringen wir einzeln zurück ins Land und übergeben sie der Justiz. Wir werden den Kampf gegen die Gülenisten (…) so lange fortsetzen, bis wir sie komplett ausgemerzt haben", sagte Erdogan zuletzt am 7. Juli 2018.
Schläge und Drohungen - auch gegen die Familien
Die Männer, die angeben, in der Türkei gekidnappt worden zu sein, treten anonym vor die Kamera. Frontal21 und CORRECTIV kennen die wahren Identitäten. Um sie zu schützen, heißen sie in den Berichten Tolga und Ali. Beide Männer bezeugen, dass sie wochenlang die Augen verbunden hatten und die Vernehmer ihnen nur dann den Stoffsack abnahmen, wenn sie Personen auf Fotos identifizieren sollten. Tolga berichtet von Schlägen, Drohungen mit sexueller Gewalt, auch gegen seine Familie, sowie von Hunger und Durst. "Sie haben mich unterhalb der Gürtellinie ausgezogen und auf den Boden in eine Stressposition gelegt", berichtet Tolga im Interview. "Sie haben sich auf mich gesetzt, als ob sie jeden Moment ein 'Sexspielzeug' an mir anwenden wollten. Dann haben sie mir gedroht: Wir werden auch deine Familie herholen. Was wir mit dir machen, werden wir auch mit deiner Frau tun, mit deiner Mutter, mit deinem Vater. Wir lassen deine Kinder dabei zuschauen."
Ali, der zweite Zeuge, will Elektroschläge und stundenlanges Stehen in einem engen Schrank erlebt haben. Er sagt, er sei mit lauter Militärmusik beschallt worden, während er nur Unterwäsche trug, gefesselt war und mit einem Stoffsack über dem Kopf bis zur Erschöpfung habe stehen müssen. "Es gab dort ein Mikrofon, mit dem sie jedes Geräusch in der Zelle hören konnten, und eine Kamera, die einen 24 Stunden lang beobachtete", berichtet Ali. "Aus dem Lautsprecher kamen Anweisungen und unerträglich laute Musik. Nach einiger Zeit hält man das nicht mehr aus, man ist durstig, müde. Wenn man nicht mehr kann, fällt man auf den Boden und dann gab es Faustschläge und Tritte."
Menschenrechtler dokumentierten zahlreiche Fälle
Mehrere Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch (HRW), haben über ein Dutzend Fälle von Entführungen und Folter in der Türkei anhand von Zeugenaussagen dokumentiert. "Wir müssen davon ausgehen, dass das systematisch ist", sagt Wenzel Michalski, Direktor von HRW Deutschland. "Wir wissen von sehr viel mehr Fällen, aber die haben wir nicht veröffentlicht, weil die Leute Angst haben, darüber zu sprechen." Öztürk Türkdogan, Vorsitzender des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, ist überzeugt, dass der türkische Geheimdienst MIT für die Entführungen in der Türkei verantwortlich ist.
Entführungen auch außerhalb der Türkei
Ab dem Sommer 2016 wurden mehrere türkische Staatsangehörige auch außerhalb der Türkei entführt. Belegbar sind Fälle in Malaysia, Aserbaidschan, Gabun, der Ukraine und der Republik Moldau. Einen Fall im Kosovo konnten Frontal 21 und CORRECTIV detailliert nachzeichnen:
Am 29. März 2018 wurden sechs Männer in Pristina von der dortigen Polizei festgenommen und am Flughafen der kosovarischen Hauptstadt dem türkischen Geheimdienst übergeben und gezwungen, in ein Flugzeug zu steigen. Vieles spricht dafür, dass der Jet vom Typ Challenger mit der Kennung TC-KLE vom türkischen Geheimdienstes MIT genutzt wird. Bei den Formalitäten am Flughafen von Pristina hinterließ die Besatzung ein Dokument, das den Besitzer des Privatjets aufführt - eine türkische Bau- und Tourismusfirma, die das Flugzeug auch betreibt. Die Firma residiert laut türkischem Handelsregister in Ankara. An gleicher Adresse stehen Wohnhäuser, in denen Beschäftigte des türkischen Geheimdienst MIT wohnen. Die Challenger wurde in der jüngsten Vergangenheit zwei Mal in Deutschland von sogenannten Plane-Spottern, flugzeugbegeisterten Fotografen, gesichtet - am 18. Februar 2017 in München, als dort die internationale Sicherheitskonferenz stattfand und am 27. September 2018 am Berliner Flughafen Tegel. Es war der Tag, an dem Erdogan zu Besuch in Berlin war. Diese Landung ist auch durch Radardaten bestätigt.
Mit diesem Flugzeug wurden sechs Männer aus dem Kosovo entführt:
Was weiß die Bundesregierung?
Die Bundesregierung bestätigte unterdessen, dass oppositionelle Türken aus dem Ausland in die Türkei gebracht werden. Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken im Bundestag antwortete sie im November 2018: "In den allermeisten Fällen dürfte es sich bei den zwangsweisen Rückführungen nach Kenntnis der Bundesregierung jedoch um offizielle Maßnahmen der jeweiligen Gastländer handeln, die von türkischer Seite zwar initiiert, von dieser aber nicht eigenständig auf fremdem Staatsgebiet durchgeführt wurden."
Quelle:
Heutige Frontal21 Sendung
https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html
ZDFinfo zeigt am 12. Dezember 2018 um 19.45 Uhr den 30-minütigen Film "Die Verschleppten – Kidnapping im Auftrag Erdogans". (in der Mediathek bereits verfügbar)
Berichte von geheimen Folterzentren
Gegenüber Frontal21 und CORRECTIV berichten zwei Männer unabhängig voneinander über geheime Folterzentren in der Türkei. Sie sagen übereinstimmend, auf offener Straße in der Türkei in dunkle Transporter gezerrt und mit einem Sack über dem Kopf in ein Geheimgefängnis gebracht worden zu sein. In Verhören unter Folter sei ihnen vorgeworfen worden, Anhänger des Predigers Fetullah Gülen und Terroristen zu sein. Ziel der Misshandlungen sei es, falsche Zeugenaussagen für Prozesse gegen Gülen-Anhänger zu erpressen, sagen die Männer. Beide berichten, sie seien nach wochenlanger Folter freigelassen worden, nachdem sie sich zum Schein für Aussagen als "anonyme Zeugen" bereit erklärt hätten. Sie konnten sich jedoch ins Ausland absetzen.
Nach dem Putschversuch im Juli 2016 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Anhänger der Gülen-Bewegung zu Terroristen erklärt und ihnen mit Verfolgung im In- und Ausland gedroht. "Die Gülenisten, die geflohen sind und sich jetzt in Sicherheit wähnen, bringen wir einzeln zurück ins Land und übergeben sie der Justiz. Wir werden den Kampf gegen die Gülenisten (…) so lange fortsetzen, bis wir sie komplett ausgemerzt haben", sagte Erdogan zuletzt am 7. Juli 2018.
Schläge und Drohungen - auch gegen die Familien
Die Männer, die angeben, in der Türkei gekidnappt worden zu sein, treten anonym vor die Kamera. Frontal21 und CORRECTIV kennen die wahren Identitäten. Um sie zu schützen, heißen sie in den Berichten Tolga und Ali. Beide Männer bezeugen, dass sie wochenlang die Augen verbunden hatten und die Vernehmer ihnen nur dann den Stoffsack abnahmen, wenn sie Personen auf Fotos identifizieren sollten. Tolga berichtet von Schlägen, Drohungen mit sexueller Gewalt, auch gegen seine Familie, sowie von Hunger und Durst. "Sie haben mich unterhalb der Gürtellinie ausgezogen und auf den Boden in eine Stressposition gelegt", berichtet Tolga im Interview. "Sie haben sich auf mich gesetzt, als ob sie jeden Moment ein 'Sexspielzeug' an mir anwenden wollten. Dann haben sie mir gedroht: Wir werden auch deine Familie herholen. Was wir mit dir machen, werden wir auch mit deiner Frau tun, mit deiner Mutter, mit deinem Vater. Wir lassen deine Kinder dabei zuschauen."
Ali, der zweite Zeuge, will Elektroschläge und stundenlanges Stehen in einem engen Schrank erlebt haben. Er sagt, er sei mit lauter Militärmusik beschallt worden, während er nur Unterwäsche trug, gefesselt war und mit einem Stoffsack über dem Kopf bis zur Erschöpfung habe stehen müssen. "Es gab dort ein Mikrofon, mit dem sie jedes Geräusch in der Zelle hören konnten, und eine Kamera, die einen 24 Stunden lang beobachtete", berichtet Ali. "Aus dem Lautsprecher kamen Anweisungen und unerträglich laute Musik. Nach einiger Zeit hält man das nicht mehr aus, man ist durstig, müde. Wenn man nicht mehr kann, fällt man auf den Boden und dann gab es Faustschläge und Tritte."
Menschenrechtler dokumentierten zahlreiche Fälle
Mehrere Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch (HRW), haben über ein Dutzend Fälle von Entführungen und Folter in der Türkei anhand von Zeugenaussagen dokumentiert. "Wir müssen davon ausgehen, dass das systematisch ist", sagt Wenzel Michalski, Direktor von HRW Deutschland. "Wir wissen von sehr viel mehr Fällen, aber die haben wir nicht veröffentlicht, weil die Leute Angst haben, darüber zu sprechen." Öztürk Türkdogan, Vorsitzender des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, ist überzeugt, dass der türkische Geheimdienst MIT für die Entführungen in der Türkei verantwortlich ist.
Entführungen auch außerhalb der Türkei
Ab dem Sommer 2016 wurden mehrere türkische Staatsangehörige auch außerhalb der Türkei entführt. Belegbar sind Fälle in Malaysia, Aserbaidschan, Gabun, der Ukraine und der Republik Moldau. Einen Fall im Kosovo konnten Frontal 21 und CORRECTIV detailliert nachzeichnen:
Am 29. März 2018 wurden sechs Männer in Pristina von der dortigen Polizei festgenommen und am Flughafen der kosovarischen Hauptstadt dem türkischen Geheimdienst übergeben und gezwungen, in ein Flugzeug zu steigen. Vieles spricht dafür, dass der Jet vom Typ Challenger mit der Kennung TC-KLE vom türkischen Geheimdienstes MIT genutzt wird. Bei den Formalitäten am Flughafen von Pristina hinterließ die Besatzung ein Dokument, das den Besitzer des Privatjets aufführt - eine türkische Bau- und Tourismusfirma, die das Flugzeug auch betreibt. Die Firma residiert laut türkischem Handelsregister in Ankara. An gleicher Adresse stehen Wohnhäuser, in denen Beschäftigte des türkischen Geheimdienst MIT wohnen. Die Challenger wurde in der jüngsten Vergangenheit zwei Mal in Deutschland von sogenannten Plane-Spottern, flugzeugbegeisterten Fotografen, gesichtet - am 18. Februar 2017 in München, als dort die internationale Sicherheitskonferenz stattfand und am 27. September 2018 am Berliner Flughafen Tegel. Es war der Tag, an dem Erdogan zu Besuch in Berlin war. Diese Landung ist auch durch Radardaten bestätigt.
Mit diesem Flugzeug wurden sechs Männer aus dem Kosovo entführt:
Was weiß die Bundesregierung?
Die Bundesregierung bestätigte unterdessen, dass oppositionelle Türken aus dem Ausland in die Türkei gebracht werden. Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken im Bundestag antwortete sie im November 2018: "In den allermeisten Fällen dürfte es sich bei den zwangsweisen Rückführungen nach Kenntnis der Bundesregierung jedoch um offizielle Maßnahmen der jeweiligen Gastländer handeln, die von türkischer Seite zwar initiiert, von dieser aber nicht eigenständig auf fremdem Staatsgebiet durchgeführt wurden."
Quelle:
Heutige Frontal21 Sendung
https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html
ZDFinfo zeigt am 12. Dezember 2018 um 19.45 Uhr den 30-minütigen Film "Die Verschleppten – Kidnapping im Auftrag Erdogans". (in der Mediathek bereits verfügbar)