Abdullah Öcalan anerkennt die Autorität der Türken
Es ist eine interessante Entwicklung, wenn sich mit Abdullah Öcalan, sogar jetzt der Türkische Geheimdienst Chef trifft.
09.12.2005
Ausland
Reimar Heider
Besuch vom Geheimdienst
Warum der Name des inhaftierten kurdischen Politikers Abdullah Öcalan plötzlich in aller Munde ist
Verwundert rieb sich am Dienstag mancher Leser der auflagenstärksten und einflußreichsten Zeitung der Türkei, Hürriyet, die Augen. Von der Titelseite blickte Abdullah Öcalan, und die lange Schlagzeile lautete: »Ich erkenne die Staatsbürgerschaft der Republik Türkei als übergeordnete Identität an.« Dazu wurde ausführlich aus dem jüngsten Gespräch des inhaftierten, zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten kurdischen Politikers mit seinen Anwälten zitiert. Das fand nach über halbjähriger Kontaktsperre in der vergangenen Woche erstmals wieder statt.
Die zitierte Aussage Öcalans ist an sich weder neu noch sensationell. Denn Öcalans Hauptthese seit dem Schauprozeß 1999 gegen ihn ist die einer »demokratischen Republik«. In dieser sollen sich nach Meinung des ehemaligen Vorsitzenden der PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) verschiedene Gruppen mit ihrer jeweils eigenen kulturellen Identität ausdrücken können. Sensationell ist eher, daß sich in besagter Ausgabe der Hürriyet sage und schreibe fünf Artikel mit Öcalan und seinen Thesen befassen: Vier gar mit positiver Tendenz.
Eine noch größere Überraschung bot die Kolumne des Chefredakteurs Ertugrul Özkök. Dieser enthüllte, daß sich der jetzige Chef des Geheimdienstes MIT, Emre Taner, mit Öcalan getroffen hat. Das Treffen auf der Gefängnisinsel Imrali soll »in der Amtszeit seines Vorgängers« stattgefunden haben, also vor Mitte 2005. Weitere Treffen, so Özkök, seien dann vom Militär unterbunden worden. Der Chefredakteur bewertete sowohl die Person Taner als auch das Treffen überaus positiv und schloß mit der Aufforderung, Öcalan zukünftig häufiger zu kontaktieren. Schließlich könne die Regierung selbst ja nicht mit »Terroristen« verhandeln. Am Mittwoch dann wurde in allen türkischen Blättern über das sonst eher gemiedene Thema Öcalan geschrieben.
Den Hintergrund für diese überraschende Hochkonjunktur des ehemaligen PKK-Vorsitzenden dürften Erklärungen von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bilden, der bei seinem jüngsten Besuch in der kurdischen Aufstandsregion Semdinli gesagt hatte, die übergeordnete Identität als Bürger der Türkei sei allen gemeinsam, Türken und Kurden. Diese Formulierung entsprach den Thesen Öcalans und brach mit der bis heute in der Türkei vertretenen rassistischen Auffassung, nach der die Grundlage des Staates das »Türkentum« bildet und alle Bürger automatisch Türken sind oder zu sein haben.
Öcalan hatte in der Vorwoche darauf hingewiesen, daß seine und Erdogans Formulierungen identisch sind. Er lobte Erdogan: »Wenn man eine Lösung will, warum macht man den Weg nicht frei für uns? Die Erklärungen des Ministerpräsidenten finde ich positiv.«
Das vom Gefangenen ins Gespräch gebrachte Modell eines »demokratischen Konföderalismus« und einer »demokratischen Republik« sieht vor, bestehende Grenzen nicht anzutasten, aber alle kulturellen Subidentitäten zu respektieren und verfassungsmäßig zu verankern. Im Falle der Türkei soll die Grundlage der Staatsbürgerschaft nicht die Zugehörigkeit zur »türkischen Nation«, sondern zur »Nation Türkei« sein, der eine kurdische Volkszugehörigkeit nicht widerspreche. Diese Begrifflichkeiten hatte sich Ministerpräsident Erdogan zu eigen gemacht und damit gegen den bisherigen kemalistischen Konsens verstoßen. Ob seinen Worten Taten folgen, bleibt abzuwarten. Auch wie die Armeeführung weiter reagiert.
* Reimar Heider ist Mitarbeiter der »Internationalen Initiative ›Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan‹«
http://www.jungewelt.de/2005/12-09/010.php