In der Türkei steht das Verbot der Regierungspartei bevor
Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan könnte aus dem Machtkampf mit dem kemalistischen Establishment als Verlierer hervorgehen
Das umstrittene Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vom vergangenen Donnerstag, mit dem zwei Verfassungsänderungen zur Legalisierung des Kopftuchs an türkischen Universitäten rückgängig gemacht wurden, hat das Abgleiten der Türkei in eine schwere politische Krise weiter beschleunigt. Die Niederlage vor dem höchsten Gericht ist nicht nur die größte Schlappe, die der konservativ-islamische Ministerpräsident Tayyip Erdogan seit seinem Amtsantritt im Jahre 2003 einstecken musste – sondern sie könnte sogar den Anfang vom Ende seiner Regierung markieren.
Seit März läuft nämlich auch ein Verbotsverfahren gegen Erdogans Regierungspartei
AKP, in dem dieselben Richter, die nun über die Kopftuchreform zu Gericht saßen, ein Urteil fällen werden. Oberstaatsanwalt Abdurrahan Yalcinkaya, der das Verfahren angestoßen hat, argumentiert in seiner
Anklageschrift, die Regierung Erdogan arbeite systematisch an der Unterwanderung der Staatsinstitutionen, der Beseitigung des Laizismus und der Einführung der Scharia.
Durch ihr Urteil in der Kopftuchangelegenheit haben die Verfassungsrichter nun deutlich signalisiert, dass sie einen ähnlichen Standpunkt wie die Staatsanwaltschaft vertreten. Die Kopftuchfreigabe sei rückgängig gemacht worden, weil ein Verstoß gegen Artikel 2 und 4 des Grundgesetzes, die die Unantastbarkeit der laizistischen Staatsordnung festschreiben, vorliege, heißt es in der
Kurzbegründung des Urteils. Für den weiteren Verlauf des Schließungsverfahrens dürfte sich dieser Richtspruch als richtungsweisend zeigen. Denn im Umkehrschluss bedeutet die Urteilsbegründung, dass auch die Verfassungsrichter zu der Ansicht gelangt sind, die Politik der AKP, die die Kopftuchreform in den vergangenen Jahren wiederholt zum "Herzstück" ihrer Agenda erklärt hat, ziele auf eine Demontage des laizistischen Grundprinzips.
Wenn man nun noch berücksichtigt, dass neun der elf Verfassungsrichter ohnehin dem Lager der politischen Gegner Erdogans angehören, so bedarf es kaum hellseherischer Fähigkeiten, um den Ausgang des Verbotsverfahrens gegen die AKP vorauszusagen. Weite Teile der türkischen Presse rechnen deshalb spätestens seit dem Urteil in der Kopftuchangelegenheit fest mit einer Schließung der Regierungspartei in absehbarer Zukunft.
Militärputsch mit anderen Mitteln
In den Reihen der AKP ist die Verbitterung über das Urteil entsprechend groß. "Kann man noch von einer demokratischen Republik sprechen, wenn ein Verfassungsgericht zu einem Urteil gelangt, dessen Rechtmäßigkeit jeder Jurist bezweifeln wird?",
beklagt sich etwa Bülent Arinc, ein Nestor der AKP.
Tatsächlich besteht kein Zweifel daran, dass die Verfassungsrichter mit ihrer inhaltlichen Prüfung der beiden Verfassungsänderungen
Artikel 148 der türkischen Verfassung, der die Kompetenzen des Verfassungsgerichts festlegt, bewusst gebrochen haben. Dort wird den höchsten Richtern allein das Recht auf eine formelle Überprüfung von Verfassungsänderungen zugestanden; eine materielle Prüfung hingegen, so wie sie jetzt vorgenommen wurde, ist nach türkischem Verfassungsrecht nur bei einfachen Gesetzen möglich. Doch eine Instanz, die den begangenen "Verfassungsbruch" der Verfassungsrichter rückgängig machen könnte, gibt es nicht.
Dass das Gericht es nicht etwa bei der Forderung nach einer Nachbesserung beließ, sondern die beiden Änderungen gleich ganz verworfen hat, halten Beobachter wie der Publizist Alper Görmüs für "politisch motiviert" und "einen regelrechten Justizputsch" – ein Vorwurf, der durchaus berechtigt sein dürfte. Denn vieles deutet darauf hin, dass das Vorgehen des Verfassungsgerichts die Fortsetzung des im vergangenen Jahr gescheiterten
Putschversuchs des türkischen Militärs "mit anderen Mitteln" ist.
Generalstabschef Yasar Büyükanit hatte damals versucht, durch ein Eingreifen in die Wahl des türkischen Staatspräsidenten ein politisches Chaos herbeizuführen, um so den Sturz der ungeliebten Regierung Erdogan herbeizuführen. Das Unterfangen scheiterte kläglich, die Regierung ging aus den vorgezogenen Neuwahlen erneut als klare Siegerin hervor (
Kemalisten gnadenlos abgestraft). Doch auch wenn es Erdogan damals gelang, eine Neuauflage des
postmodernen Putsches von 1997 zu verhindern, war damit die Macht des über Jahrzehnte als "politisch allmächtig" geltenden türkischen Militärs nicht endgültig gebrochen. Vielmehr ist das jetzige Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht, das neben dem Militär ebenfalls traditionell als "Bastion des Kemalismus" zählt, der "Plan B" der politischen Gegner Erdogans, mit dem der politische Islam in der Türkei doch noch von der Macht verdrängt werden soll.
So gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Generalstabschef Büyükanit auch diesmal wieder im Hintergrund die Fäden zieht. Wie im April vergangenen Jahres, als der General schon einmal ein juristisch zweifelhaftes Verfassungsgerichtsurteil im Sinne des Militärs
erzwang, übte Büyükanit in der vergangenen Woche erneut Druck auf das Höchstgericht aus, indem er die Richter an ihre zentrale Stellung bei der Verteidigung der staatlichen Grundordnung erinnerte: "Mit Sorge beobachten wir, dass bestimmte Kräfte versuchen, die [laizistische] Grundordnung zu zerstören. Aber die gesetzlichen Organe werden dies niemals zulassen",
mahnte Büyükanit am Donnerstag in Richtung Verfassungsgericht - kaum zufällig wenige Stunden vor der Urteilsverkündung.
Machtkampf mit harten Bandagen
Das Heulen und Zähneklappern, das nun in den Reihen der AKP angesichts der unschönen Methoden der Gegner ausgebrochen ist, hat allerdings nur mit Einschränkungen seine Berechtigung. Auch wenn der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen ist, dass das alteingesessene kemalistische Establishment in Militär und Staatsapparat, das um seine Privilegien fürchtet, einen "politisch motivierten Richtspruch der Justizoligarchie" veranlasst hat, wie etwa der AKP-Abgeordnete Hüsrev Kutlu erbost
kommentierte – in dem skrupellosen Machtkampf, der zwischen Kemalisten und aufstrebendem konservativ-islamischem Mittelstand tobt, zieht auch die AKP sämtliche Register. So wurde beispielsweise erst kürzlich publik, dass der stellvertretende Präsident des Verfassungsgerichts, Osman Paksüt, über Monate illegal abgehört worden ist. Mit dem "schmutzigen Material", das man sich von der Aktion erhoffte, sollte der Richter in dem laufenden Verbotsverfahren unter Druck gesetzt werden.
Die immer lauter werdenden Klagen in den Reihen der AKP über die harten Bandagen ihrer Gegner dürften deshalb eher auf den Umstand zurückzuführen sein, dass eine Niederlage in dem Machtkampf inzwischen durchaus nicht mehr unwahrscheinlich ist. Doch für Verzweiflung sorgt auch der Umstand, dass der AKP bis zur Verkündung eines Urteils in dem Verbotsverfahren die Hände erst einmal weitestgehend gebunden sind. Deutlich zum Ausdruck kommt dies in den Strategien für das weitere Vorgehen, die in der Partei in den vergangenen Tagen angedacht worden sind, um das sich abzeichnende Verbot doch noch abzuwenden.
So
verkündete Regierungssprecher Cemil Cicek etwa, man wolle nun plötzlich die vor Monaten leichtfertig aufgegebene Verfassungsreform wieder ausgraben, um im Rahmen einer breitangelegten "Demokratieoffensive" die Macht der von den politischen Gegnern besetzten Institutionen, wie etwa dem Nationalen Sicherheitsrat oder dem Verfassungsgericht, zu beschneiden. Doch weil sich ohne die Unterstützung der Opposition die notwendige Zweidrittelmehrheit dafür nicht mobilisieren lässt, hat dieses Unterfangen kaum Aussicht auf Erfolg. Ganz abgesehen davon ist es fraglich, wie ein laufendes Verfahren so noch aufgehalten werden soll.
Auch die Option einer aus freien Stücken verfügten Selbstauflösung und anschließenden Neugründung, mit der man einem Parteienverbot zuvorkommen könnte, wurde inzwischen als "zu unsicher" verworfen. Das Dilemma, vor dem die AKP steht,
zeigte sich nicht zuletzt in der allseits erwarteten "Strategierede", mit der Ministerpräsident Erdogan am Dienstag sein fünftägiges Schweigen zu dem Kopftuchurteil des Verfassungsgerichts brach. Über die "politischen Intrigen" der kemalistischen Oppositionspartei
CHP beklagte sich Erdogan in der Rede, über die "Kompetenzüberschreitung" des Verfassungsgerichts – doch auf Anhaltspunkte für eine Strategie, mit der einem drohenden Parteienverbot begegnet werden könnte, warteten seine Zuhörer bezeichnender Weise vergebens.
Der lachende Dritte
Murat Yetkin, ein für gewöhnlich gut informierter Kolumnist der liberalen Tageszeitung Radikal, will derweil aus AKP-Kreisen
erfahren haben, dass der Richtspruch in dem Verbotsverfahren tatsächlich erst einmal abgewartet werden soll – und man sich stattdessen intensiv auf eine "Rekord-Neugründung innerhalb von zwei bis drei Wochen" für den Fall eines Verbots vorbereite. Bei den anschließenden vorgezogenen Neuwahlen soll eine Nachfolgepartei, für die bereits die Namen HAK oder PAK im Umlauf sind, dann wieder "50 bis 60 Prozent der Stimmen" einfahren.
Doch auch dieses Vorgehen birgt Gefahren. Denn Ministerpräsident Erdogan, der ohne Zweifel das mit Abstand wichtigste Zugpferd des politischen Islam in der Türkei ist, und 70 weiteren prominenten Mitstreitern winkt im Falle einer Schließung der AKP ein mehrjähriges
Politikverbot. Einer jeden Nachfolgepartei drohen deshalb im Falle eines erzwungenen Ausscheidens des derzeitigen Führungskaders nicht nur lähmende Streitigkeiten um das politische Erbe – so wie es bereits nach dem Verbot der 1997 vom Militär gestürzten AKP-Vorgängerpartei Refah Partisi (RP) der Fall gewesen ist. Sondern einer islamischen Partei, die nicht auf den Charismatiker Erdogan zurückgreifen kann, drohen einer aktuellen
Umfrage zufolge auch erhebliche Stimmenverluste bei den zu erwartenden Neuwahlen.
Mit der rechtsextremen "Partei der nationalistischen Bewegung" (
MHP) steht eine mögliche Erbin der AKP bereits in den Startlöchern. Ohnehin fischen beide im selben Wählermilieu rechts der politischen Mitte, das in der Türkei die große Mehrheit der Wählerschaft ausmacht. Bezeichnender Weise war es MHP-Chef Devlet Bahceli, mit dessen Schützenhilfe es Erdogan im Februar überhaupt erst
vermochte, die nötige Zweidrittelmehrheit für die Kopftuchreform, die der AKP nun das Genick zu brechen droht, zu mobilisieren. Mit seiner Unterstützung gelang es Bahceli geschickt, im religiösen Wählermilieu zu punkten. Doch von dem jetzigen Verfassungsgerichtsurteil und dem drohenden Parteienverbot ist Erdogan allein betroffen – während MHP-Führer Bahceli sich immer deutlicher als lachender Dritter im Machtkampf zwischen Kemalisten und AKP abzeichnet.
Aus Neuwahlen könnte die MHP sogar als Siegerin hervorgehen. Ob die dumpfe Minderheitenfeindlichkeit und der populistische Nationalismus Devlet Bahcelis für eine moderne und freiheitliche Türkei eine geringere Gefahr darstellen als die Islamisierungsbestrebungen Tayyip Erdogans, darf allerdings bezweifelt werden
TP: In der Türkei steht das Verbot der Regierungspartei bevor