Die Region Istanbul hat so viele Einwohner wie Rumänien und die höchste Kaufkraft in Südosteuropa. Die türkische Wirtschaft soll weiter wachsen. Vor allem im Verkehrsbereich gibt es Chancen für heimische Firmen.
Um knapp sieben Prozent soll die türkische Wirtschaft heuer wachsen. „Die Türkei ist mit diesen Zahlen auf dem Niveau von Ländern wie Brasilien oder China. Allerdings ist das Land wesentlich näher“, sagt Marco Garcia, der österreichische Handelsdelegierte in Istanbul. Dennoch sei in den vergangenen Jahren auf die Türkei regelrecht „vergessen“ worden.
Die heimischen Unternehmen hätten sich vor allem auf Ost- und Südosteuropa gestürzt, so Garcia weiter. Dabei sei allein die Region Istanbul mit geschätzten 23 Millionen Einwohnern so groß wie Rumänien.
Zudem sei auch die Kaufkraft deutlich höher als in den meisten Ländern der Region.
„Nur Kroatien hat in Südosteuropa eine höhere Kaufkraft als die Türkei. Nimmt man die Region Istanbul allein, haben die Menschen hier sogar mehr in der Tasche als die Kroaten“, sagt Garcia.
Seit 2001 haben sich die heimischen Exporte in die Türkei zwar auf rund 800 Mio. Euro im Jahr verdoppelt. 2009 war Österreich nach den Niederlanden sogar der zweitgrößte Investor. Laut Garcia könnte es aber noch deutlich mehr sein. Seiner Meinung nach gebe es bei heimischen Unternehmen zum Teil Vorurteile gegen die Türkei.
Korruption ist kein Thema
Dabei hätte das Land viele Vorteile gegenüber osteuropäischen Ländern. „So ist Korruption für die hier tätigen rund 150 österreichischen Firmen kein Thema“, sagt Garcia. Auch die wirtschaftliche Stabilität habe sich in der Krise bewiesen. „In der Türkei ist etwa keine einzige Bank in die Schieflage geraten. Auch finanzielle Unterstützung vom Staat war nicht notwendig.“
Möglichkeiten für heimische Unternehmen gibt es vor allem im Verkehrsbereich. Denn das wirtschaftliche Wachstum führt in der Türkei zu einem großen Zustrom vom Land in die Ballungszentren – vor allem nach Istanbul. Die städtische Infrastruktur ist davon überfordert.
Nur zwei Brücken verbinden den europäischen und den asiatischen Teil der Stadt. Da sich der Großteil der Arbeitsplätze im europäischen Teil der Stadt befindet, müssen jeden Tag 1,1 Millionen Menschen den Bosporus queren. Stundenlange Staus zu nahezu jeder Tageszeit sind die Folge.
Antike „behindert“ Tunnelbau
Öffentliche Verkehrsmittel, die das tägliche Chaos auf den Straßen vermindern könnten, sind bisher Mangelware. Abhilfe soll nun ein Bahntunnel schaffen, der unter dem Bosporus gebaut und die bereits vorhandenen Strecken auf den beiden Stadtteilen verbinden wird. Eigentlich hätte das Projekt bereits heuer fertig werden sollen. Die archäologischen Vorarbeiten sorgten jedoch für eine viereinhalbjährige Verzögerung. 34 antike Schiffswracks, Dutzende Skelette und hunderte andere Überbleibsel aus der byzantinischen Zeit wurden dabei zutage gefördert, sagt Hüseyin Belkaya, der stellvertretende Projektleiter des „Marmaray Project“ getauften Tunnels.
Mit rund 450 Mio. Euro (inklusive der Kosten der Verzögerung) machte die Archäologie einen nicht unwesentlichen Teil der Gesamtkosten von knapp drei Mrd. Euro aus. Dies war jedoch nicht das einzige zu lösende Problem. Denn Istanbul liegt in einer Erdbebenzone. „Der Tunnel ist auf eine Lebensdauer von hundert Jahren ausgelegt. Wir müssen also damit rechnen, dass er mindestens ein schweres Erdbeben erleben wird“, sagt Belkaya.
Flexible Stahlelemente zwischen den betonierten Tunnelröhren – der Großteil des Tunnels wurde nicht gebohrt, sondern per Schiff im Meer versenkt – sollen dafür sorgen, dass er auch nach einem Erdbeben der Stärke 7,5 noch funktionstüchtig ist.
„Bei so einem Erdbeben werden die Brücken zusammenbrechen. Das wissen wir. Der Bahntunnel muss daher halten, um die Grundversorgung zu gewährleisten“, so Belkaya. Vorerst soll er jedoch nach seiner geplanten Fertigstellung ab Mitte dieses Jahrzehnts die Verkehrssituation in Istanbul entlasten und den wirtschafts- und lebensqualitätsschädigenden Dauerstau in der türkischen Metropole verringern.
Türkei: Das "vergessene Rumänien" « DiePresse.com