Griechen-Rettung offenbart tiefe Risse
Agence France Presse/Getty Images Griechisches Parlament in Athen: Geheime Unterlagen des IWF stehen in deutlichem Widerspruch zu den öffentlichen Aussagen des Fonds über das griechische Rettungsprogramm.
Hätte Griechenland im Jahr 2010 jemals ein milliardenschweres Rettungspaket bekommen dürfen? Recherchen des Wall Street Journal zeigen, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) intern tief gespalten war, ob die damals beschlossenen immensen Finanzhilfen der griechischen Wirtschaft überhaupt helfen würden. Trotzdem gewährte der Fonds das Geld.
Was geheime Unterlagen jetzt belegen, steht im Widerspruch zu den öffentlichen Aussagen des IWF und könnte die aktuelle Diskussion um einen möglichen Schuldenerlass für Griechenland zusätzlich aufheizen. Deutschland und andere europäische Staaten lehnen einen Schuldenschnitt für die Regierung in Athen ab, um die eigenen Steuerzahler zu schonen. Trotzdem könnte es letztlich zu einem Schuldenerlass kommen, weil der IWF künftig nur noch dann Finanzhilfe an Griechenland überweisen will, wenn der Schuldenberg des Landes insgesamt erheblich sinkt.
Das Thema wird ganz oben auf der Agenda stehen, wenn Finanzminister aus aller Welt in dieser Woche zum Jahrestreffen des IWF in Washington zusammenkommen.
Fast ein Drittel der IWF-Entscheider hatte Bedenken
Dass sich der IWF so entschlossen für einen Schuldenabbau in Griechenland einsetzt, liegt nach Auskunft einiger Fondsvertreter unter anderem daran, dass die große Rettungsaktion von Anfang an heftig umstritten war. Das IWF-Exekutivdirektorium beschloss das Finanzpaket für Griechenland am 9. Mai 2010. Aber die entsprechenden Beschlussakten – Unterlagen mit dem Vermerk „Geheim" oder „Streng vertraulich", in die das Wall Street Journal Einblick hatte – bieten einen seltenen Einblick in die internen Abläufe des IWF, die damals ein sich rasch ausweitendes Finanzdisaster vermeiden sollten.
Fast ein Drittel aller Mitglieder in dem Gremium, die zusammen mehr als 40 außereuropäische Staaten repräsentieren, hatten den Akten zufolge damals erhebliche Bedenken gegen den griechischen Rettungsschirm. Viele wandten ein, dass das Rettungsprogramm den Griechen die ganze Last der Veränderungen aufbürde, von den europäischen Gläubigern hingegen gar nichts verlange. Mehrere IWF-Vertreter sagten damals, die Rettungsaktion würde schief gehen, wenn die Gläubiger Griechenland nicht gleichzeitig einen Teil seiner schwindelerregenden Schulden erlassen würden.
Mehr zu Griechenland
„Die Alternative einer freiwilligen Schuldenrestrukturierung hätte auf dem Tisch sein müssen", sagte etwa Pablo Andrés Pereira bei der kritischen Sitzung im Jahr 2010, der damals als Exekutivdirektor für Argentinien in dem Beschlussgremium saß. Der Fonds, sagte Pereira damals, laufe Gefahr, „das Unausweichliche" – einen Zahlungsausfall Griechenlands – lediglich „zu verzögern und vielleicht sogar zu verschlimmern".
Direktoren aus Brasilien, Russland, Kanada und Australien – die zusammen 38 weitere Länder vertraten – sprachen laut Sitzungsprotokoll über die „immensen Risiken" des Programms. Dieses könnte sich ihrer Ansicht nach als „verfehlt und letztlich nicht nachhaltig" erweisen oder schlichtweg als „Rettung privater Eigentümer griechischer Staatsanleihen, vor allem europäischer Finanzinstitutionen", warnte der brasilianische Exekutivdirektor beim IWF damals.
Den amerikanischen und den meisten europäischen Direktoren, die mehr als die Hälfte der Stimmrechte im IWF auf sich vereinten, gelang es damals aber, genügend Unterstützer für das Rettungsprogramm zu gewinnen.
Das Kreditprogramm verpflichtete die griechische Regierung zu strikten Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Eine Schuldenrestrukturierung – etwa über einen Schuldenerlass, über niedrigere Kreditzinsen oder eine Verlängerung des Tilgungszeitraums – war darin nicht vorgesehen. Das ersparte denen, die griechische Schulden hielten (und das waren hauptsächlich europäische Banken), die Verluste, die mit einer Restrukturierung einher gegangen wären.
Europas Interessen über die griechischen gestellt?
Einige derjenigen, die damals gegen das IWF-Rettungsprogramm waren, und auch einige andere IWF-Mitarbeiter glauben, dass die Interessen der europäischen Großmächte über die der Griechen gestellt wurden. Seit 2009 ist Griechenlands Wirtschaft um ein Fünftel geschrumpft und die Arbeitslosenrate des Landes ist auf fast 28 Prozent gestiegen. Das präge den derzeitigen Standpunkt des IWF, der jetzt mit den Europäern über eine Schuldenrestrukturierung verhandeln wird, sagen aktuelle und frühere IWF-Vertreter.
„Die griechische Rettung war kein Programm für Griechenland, sondern für die Eurozone selbst", sagt einer, der bei der IWF-Sitzung im Jahr 2010 dabei war, rückblickend.
Die vertraulichen Papiere zeigen, dass mehrere IWF-Direktoren die Wirtschaftsprognosen von Anfang an sehr skeptisch sahen. Sie nannten die Zukunftsaussichten „eher optimistisch" oder „übermäßig gut".
Ein IWF-Sprecher teilte mit, der Krisenfonds rechne weiterhin mit einem Aufschwung in Griechenland, parallel zu den langsam greifenden wirtschaftlichen Reformen. „Aber wir sind konservativer als vorher und wir erkennen sicherlich an, dass Griechenland länger brauchen wird, um auf der Wachstumsseite aufzuholen", sagte der Sprecher.
In vielerlei Hinsicht muss die Geschichte des größten Rettungspakts seit Bestehen des IWF mit Blick auf die geheimen Akten neu geschrieben werden.
So sagte nach der folgenschweren IWF-Sitzung im Mai 2010 der damalige Geschäftsführer Dominque Strauss-Kahn zu Journalisten, der Fonds habe „keine Zweifel" daran, dass die Rettung glücken werde. Aber hinter den Kulissen hatte längst ein erheblicher Teil des außereuropäischen Direktoriums ernsthafte Zweifel, sogar massiven Ärger über den Rettungsplan geäußert, verraten die Sitzungsprotokolle sowie persönliche Kommentare von Mitgliedern im Exekutivdirektorium, die in den Tagen vor und nach dem Treffen verfasst wurden.
Wut und Frust im IWF-Direktorium
Die finanziellen Anpassungen, die Griechenland würde leisten müssen, sei „eine Mammutlast, welche die Wirtschaft kaum verkraften könnte", sagte der ehemalige indische IWF-Direktor Arvind Virmani bei der Sitzung. Er stellte offen die Frage, ob der schiere Umfang der Sparzwänge, die der IWF von Griechenland erwarte, das Rettungsprogramm nicht vielmehr scheitern lassen und das Land in einen Zahlungsausfall treiben würde.
Alle Versuche, Ex-IWF-Chef Strauss-Kahn für einen Kommentar zu dem Thema zu erreichen, liefen ins Leere. Mittlerweile hat jedoch auch der IWF einige Fehler eingeräumt. In einem im Juni veröffentlichten Bericht gestand der Fonds ein, dass einige Finanzprognosen, die dem Rettungsprogramm zugrunde lagen, zu rosig gewesen seien.
IWF-Vertreter haben trotzdem immer wieder ihre guten Absichten betont: Als sie den Rettungsschirm im Jahr 2010 beschlossen, rechneten sie nach eigener Darstellung nicht damit, dass Griechenland eine Umschuldung benötigen würde.
„Im Mai 2010 wussten wir, dass Griechenland einen Rettungsschirm braucht, aber nicht, dass eine Schuldenrestrukturierung erforderlich sein würde", sagte IWF-Geschäftsführerin Christine Lagarde im Juni in einem Interview. „Wir hatten keinen Schimmer, dass sich die allgemeine konjunkturelle Lage so schnell verschlechtern würde, wie sie es getan hat."
Anfang 2011, als deutlich wurde, dass die griechische Schuldenlast untragbar würde, habe der IWF für eine Umschuldung plädiert, bestätigt ein IWF-Sprecher.
Schuldenerlass war schon 2010 ein Thema
Aus den vertraulichen IWF-Unterlagen geht hervor, dass es schon ganz zu Anfang hitzige Diskussionen darüber gab, ob ein Teil der griechischen Schulden erlassen werden sollte. Bei der Sitzung im Mai 2010 fragten Direktoren aus dem Nahen Osten, aus Asien und aus lateinamerikanischen Ländern mehrfach, wieso man ihnen diese Option nicht in Betracht ziehe.
Europäische Direktoren waren demnach „überrascht", als sich die Schweiz „mit Nachdruck" auf die Seite der Kritiker innerhalb des IWF schlug, zeigen die Sitzungsprotokolle. „Warum wurde eine Schuldenrestrukturierung und die Einbeziehung des privaten Sektors in das Rettungspaket nicht berücksichtigt?" fragte der Schweizer Exekutivdirektor René Weber damals.
Heute sagt der IWF, eine Umschuldung sei im Jahr 2010 einfach nicht praktikabel gewesen. Das Risiko, dass die griechische Finanzmisere auf andere Länder übergreifen und einen Flächenbrand verursachen könnte, erschien zu hoch.
Ein Großteil der griechischen Schulden war damals im Besitz von angeschlagenen französischen und deutschen Banken; insofern kam eine Restrukturierung für europäische Staaten nicht infrage. Und die USA hatten Angst um ihre eigenen Milliardeninvestitionen in europäisches Bankenkapital.
Die heutige IWF-Chefin Lagarde war damals noch Finanzministerin in Frankreich und bemühte sich redlich, den Banken ihres Landes Verluste zu ersparen. Die französischen Banken hatten Griechenland viel Geld geliehen.
Strauss-Kahn, der damals bekanntermaßen eine Kandidatur im französischen Präsidentschaftswahlkampf ins Auge gefasst hatte, wehrte zaghafte Versuche, das Thema doch noch zu fördern, kurzerhand ab, nachdem er vor der IWF-Sitzung schon auf europäischen Widerstand gestoßen war.
2013 kam die Kehrtwende beim IWF
Im Juni 2013 räumte der IWF in einem eigenen Bericht „beachtliche Versäumnisse" bei der Rettung Griechenlands ein, obwohl der Fonds im Allgemeinen schon den richtigen politischen Kurs eingeschlagen habe. „Eine Schuldenrestrukturierung von Anfang an wäre für Griechenland besser gewesen, obwohl das für die Euro-Partner nicht akzeptabel war", heißt es in dem Bericht.
Rückblickend, so konstatiert darin der IWF, „funktionierte das Programm wie eine Hinhalte-Operation", die es privaten Gläubigern ermöglicht habe, griechische Schulden in ihrem Besitz zu reduzieren, während „Steuerzahler und die öffentliche Hand festsaßen".
Mehrere IWF-Direktoren hatten schon drei Jahre früher genau davor gewarnt. Man könnte sagen, das Programm sei „weniger eine Rettung Griechenlands, das sich harschen Korrekturen stellen muss, als vielmehr eine Rettung der privaten Anleihebesitzer Griechenlands, vor allem der europäischen Finanzinsitutionen", sagte der brasilianische Exekutivdirektor Paulo Nogueira Batista beim Treffen im Mai 2010.
Die Zweifler sollten Recht behalten. Griechenland schaffte die vereinbarten Finanzziele nicht und benötigte im Jahr 2012 einen weiteren Rettungsschirm. Die verbliebenen privaten Gläubiger mussten daraufhin bei der größten je erfolgten Umschuldung Verluste hinnehmen.
Mit dem Kollaps der griechischen Wirtschaft ist der Schuldenberg des Landes enorm angestiegen. Das könnte nun die Regierungen der Eurozone zwingen, ein drittes Rettungspaket für Griechenland zu schnüren. Und dabei müssten sie wohl auch einen Teil der griechischen Schulden erlassen.