Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā (arabisch أبو علي الحسين بن عبد الله ابن سينا, DMG Abū ʿAlī al-Ḥusain b. ʿAbd Allāh ibn Sīnā; * um 980 in Afschana (Afšana) bei Buchara in der persischen Provinz Chorasan; † Juni 1037 in Hamadan) – kurz Ibn Sina und latinisiert Avicenna – war ein persischer Arzt, Physiker, Philosoph, Dichter, Jurist, Mathematiker, Astronom, Alchemist und Musiktheoretiker. Er zählt zu den berühmtesten Persönlichkeiten seiner Zeit und hat insbesondere die Geschichte und Entwicklung der Medizin maßgeblich geprägt. Einige seiner philosophischen Ausarbeitungen wurden von späteren Mystikern des Sufismus rezipiert.
Kanon der Medizin
Die erste Seite einer Abschrift des Kanons von 1597/98
Der Qānūn at-Tibb (Kanon der Medizin; arabisch القانون في الطب, DMG al-Qānūn fī ṭ-Ṭibb) ist das bei weitem berühmteste von Avicennas Werken, woraus auch sein Beiname al-Qānūni herrührt. Das Werk ist mehrfach unterteilt. Die Hauptunterteilung sind die fünf Bücher:
Allgemeine Prinzipien (Theorie der Medizin)
Alphabetische Auflistung von Medikamenten (Arzneimittel und ihre Wirkungsweise)
Krankheiten, die nur spezielle Organe betreffen (Pathologie und Therapie)
Krankheiten, die sich im ganzen Körper ausbreiten (Chirurgie und Allgemeinkrankheiten)
Produktion von Heilmitteln (Antidotarium)
Im die Medizin systematisch zusammenfassenden Qānūn wird beispielsweise beschrieben, dass Tuberkulose ansteckend ist und dass Krankheiten von Wasser und Erde übertragen werden können. Er gibt eine wissenschaftliche Diagnose von Ankylostomiasis (Hakenwurmbefall) und beschreibt die Bedingungen des Auftretens von Eingeweidewürmern. Der Qānūn behandelt die Wichtigkeit von Diäten, den Einfluss des Klimas und der Umwelt auf die Gesundheit und den chirurgischen Gebrauch von peroral zugeführten Anästhetika. Avicenna rät Chirurgen, Krebs in seinen frühesten Stadien zu behandeln und sicherzustellen, dass alles kranke Gewebe entfernt worden ist. Erstmals wird von ihm die Harnfistel, wie sie bei Verletzungen der Harnblase durch die Geburt auftreten kann beschrieben. Des Weiteren wird die Anatomie des Auges richtig beschrieben, und es werden verschiedene Augenkrankheiten (wie Katarakt) beschrieben. Außerdem werden Symptome ansteckender und sexuell übertragbarer Krankheiten genannt sowie auch diejenigen von Diabetes mellitus. Das Herz wird als Pumpe aufgefasst.
Die Materia Medica („Medizinisches Material“) des Qānūn enthält 760 Medikamente mit Angaben zu deren Anwendung und Wirksamkeit. Avicenna war der erste, der Regeln aufstellte, wie ein neues Medikament zu prüfen sei, bevor es Patienten verabreicht wird.
Avicenna bemerkte die enge Beziehung zwischen Gefühlen und dem körperlichen Zustand, befasste sich im Sinne der griechischen Humoralpathologie mit der positiven physischen und psychischen Wirkung der Musik auf Patienten und stellte auch Beziehungen der menschlichen Temperamente zu den unterschiedlichen modalen Tonsystemen und tradierten Melodien her, die sich heute noch in den Dastgahha der persischen und Maqamat der arabischen Musik finden. Zu den vielen psychischen Störungen, die er im Qānūn beschreibt, gehört auch die Liebeskrankheit. Wie es heißt, habe Avicenna die Krankheit des Prinzen von Gorgan diagnostiziert, der bettlägerig war und dessen Leiden die örtlichen Ärzte verwirrte. Avicenna bemerkte ein Flattern im Puls des Prinzen, als er die Adresse und den Namen seiner Geliebten erwähnte. Der große Arzt hatte ein einfaches Heilmittel: Der Kranke sollte mit seiner Geliebten vereint werden.
Vor 1180 entstand, verfasst von Guido von Arezzo dem Jüngeren, ein Liber mitits genannter Purgiertraktat, der die medizinische Avicenna-Rezeption einleitete. Ebenfalls im 12. Jahrhundert (vor 1187) wurde der Kanon von Gerhard von Cremona in Toledo ins Lateinische übersetzt. Das Werk, von dem 1470 im gesamten Abendland 15–30 lateinische Ausgaben existierten, galt bis ins 17. Jahrhundert als wichtiges Lehrbuch der Medizin. 1493 erschien es in Neapel in einer hebräischen Fassung, 1593 wurde es als eines der ersten persischen Werke in Rom in arabischer Sprache gedruckt. 1650 wurde der Kanon zum letzten Mal an den Universitäten von Löwen und Montpellier benutzt.
An der Universität Wien musste Pius Nikolaus von Garelli (Dr. med. et phil. der Universität Bologna) zur Aufnahme in die medizinische Fakultät noch am 18. Februar 1696 eine feierliche „Repetition“ über einen Abschnitt des Canon des Avicenna mit anschließender Argumentation der Gründe abhalten, die für oder wider die darin enthaltenen Thesen sprechen.
Liber Primus Naturalium: Natürliche Ursachen von Krankheiten und Missbildungen
Avicenna beschäftigte sich in seinem Werk Liber Primus Naturalium mit der Frage, ob Ereignisse wie Krankheiten oder Missbildungen Zufallsereignisse sind und ob sie natürliche Ursachen haben. Er analysierte dies am Beispiel Polydaktylie. Seine Erkenntnis war: Wenn ein Ereignis selten ist, hat es unabhängig davon eine natürliche Ursache, auch wenn eine solche unnatürlich erscheint. Krankheiten oder Missbildungen werden von Avicenna am Beispiel Polydaktylie unter neuem Vorzeichen gesehen: Sie sind keine übernatürlichen und keine zufälligen Phänomene. Die Erkenntnis, dass solche Phänomene natürlich sind, ist ein fundamentaler Schritt in Richtung einer konsequent naturalistischen Betrachtung medizinischer Phänomene. Avicennas Folgerung, allen medizinischen Phänomenen natürliche Ursachen zuzuschreiben, war damit der Aufklärung in Europa um 700 Jahre voraus.
Weitere medizinische Werke
Neben dem Kanon und dem Liber Primus Naturalium gibt es noch 14 weitere medizinische Werke Avicennas, von denen acht in Versen geschrieben sind. Sie enthalten unter anderem die 25 Zeichen der Erkennung von Krankheiten, hygienische Regeln, nachgewiesene Arzneien, anatomische Notizen. Unter seinen Prosa-Werken fand die Abhandlung über Herzmedikamente besondere Beachtung.
Naturwissenschaft
Avicenna beschäftigte sich auch mit Naturwissenschaften. In der Astronomie arbeitete er seinem Schüler al-Dschuzdschani zufolge an Ptolemäus’ Sternenmodell und vermutete, dass die Venus der Erde näher stehe als die Sonne. Die Astrologie lehnte er ab, weil ihre Brauchbarkeit nicht empirisch nachweisbar und sie mit der islamischen Theologie unvereinbar sei. Avicenna zitierte einige Passagen aus dem Koran, um dieses Urteil religiös zu untermauern.
Er beschrieb die Wasserdampfdestillation zur Erzeugung von Ölen bzw. öligen Auszügen. Andererseits stand er der damaligen Chemie, der Alchemie, relativ skeptisch gegenüber und glaubte nicht an einen Stein der Weisen. Alchemistisch erzeugtes Gold war, wie er in seinem Kitab al-Schifa schrieb, nur eine Imitation und er bestritt die Gleichheit natürlicher und künstlicher Stoffe. Sie war in den frühen Übersetzungen oft der Meteorologica von Aristoteles beigefügt, da die Herausgeber sie für aristotelisch hielten, und übte einen beträchtlichen Einfluss auf die alchemistische Literatur aus als Gegenpol, gegenüber dem man sich rechtfertigte. Einige der ihm später zugeschriebenen alchemistischen Schriften sind spätere Unterschiebungen (wie De anima in arte alkemia), beeinflussten aber z. B. Roger Bacon.
In der Geologie gab er zwei Ursachen für die Entstehung von Bergen an: „Entweder entstehen sie durch das Aufbäumen von Erdschichten, wie es bei schweren Erdbeben geschieht, oder sie sind die Folge von Wasser, das neue Wege suchte und Täler herausgewaschen hat, wo weichere Gesteinsschichten zu finden sind … Dies muss jedoch eine große Zeit in Anspruch nehmen, in der die Berge selbst geringer werden könnten.“
Auch in der Physik war Avicenna vielfältig tätig; so verwendete er Thermometer, um die Temperatur bei seinen Experimenten zu messen, und stellte eine Theorie über Bewegung auf. Darin befasste er sich mit der Kraft und der Bahnneigung eines Geschosses und zeigte, dass ein Geschoss sich in einem Vakuum ewig fortbewegt. In der Optik argumentierte er, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich sei, und gab eine Beschreibung des Regenbogens.
Philosophie
Avicenna beschäftigte sich ausgiebig mit philosophischen Fragen, sowohl mit Metaphysik als auch mit Logik und Ethik. Seine Kommentare zu Werken des Aristoteles enthielten konstruktive Kritik an dessen Auffassungen und schufen Voraussetzungen für eine neue Aristoteles-Diskussion. Avicennas philosophische Lehren werden sowohl von westlichen als auch von muslimischen Forschern als weiterhin aktuell eingeschätzt.
Der Kanon wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Gerhard von Cremona in Toledo ins Lateinische übersetzt. Indem Gerhard den Namenszusatz al-raïs mit princeps („Fürst“) und im Explicit des Kanons mit rex („König“) übersetzte, trug er zu der besonders in Italien seit dem 14. Jahrhundert verbreiteten Legende bei, dass Avicenna ein „Fürst von Cordoba“ oder von Sevilla gewesen sei. Daher erscheint Avicenna in bildlichen Darstellungen oft mit Krone und Zepter und wurde auch in der islamischen Welt oft als „fürstlicher Meister“ (türkisch Scheikü'r-Reis) dargestellt. Etwa zur gleichen Zeit wie Gerhards Übersetzung entstand in der Übersetzerschule von Toledo eine dem Erzbischof Johannes von Toledo (1151–1166) gewidmete Übersetzung des Kitāb al-Schifā, die zunächst durch den jüdischen Philosophen Abraham ibn Daud bzw. Avendauth (Avendarith israelita philosophus) aus dem Arabischen ins Spanische und dann durch Dominicus Gundisalvi aus dem Spanischen ins Lateinische übertragen wurde. Aus dieser Übersetzung hat besonders das sechste Buch über die Seele unter dem Titel Liber sextus naturalium die philosophischen Debatten der Scholastik seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachhaltig geprägt. Eine selbständige Übersetzung speziell des achten Buches über die Tiere wurde in der Zeit nach 1220 von Michael Scotus in Italien angefertigt und Friedrich II. gewidmet: ein in Melfi entstandenes, kaiserlich autorisiertes Exemplar ist im Kolophon auf den 9. August 1232 datiert.
Avicennas Kompendium Dāneschnāme-ye ʿAlā’ī wurde zwar nicht direkt ins Lateinische übersetzt, wurde jedoch indirekt einflussreich für die lateinische Tradition, nämlich dank der Verwendung durch Al-Ghazali als Vorlage für dessen Schrift Maqāṣid al-falāsifa (Die Absichten der Philosophen, 1094), in der dieser seinem Angriff auf die Lehren Ibn Sinās, Al-Farābīs und anderer „Philosophen“ (Tahāfut al-falāsifa, Die Inkohärenz der Philosophen, 1095, lat. Destructio philosophorum) zunächst eine Darstellung von Grundbegriffen der Logik, Metaphysik, Theologie und Physik aus den Lehren dieser Philosophen vorhergeschickt hatte. Maqāṣid al-falāsifa wurde bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Toledo ins Lateinische übersetzt, wohl von Dominicus Gundisalvi, und kursierte dann in einer der Handschriften unter dem Titel Liber Algazelis de summa theoricae philosophiae. Die lateinischen Leser kannten die Abhängigkeit von Avicennas Dāneschnāme-ye ʿAlā’ī nicht, sondern hielten das Buch für eine Darlegung genuiner Lehre Al-Ghazālīs, was dann dazu führte, dass der letztere auch von solchen Autoren besondere Wertschätzung erfuhr, die mit der von ihm bekämpften Traditionslinie sympathisierten.
Avicenna unrichtig zugeschrieben wurde eine unter dem Titel Liber Avicennae in primis et secundis substantiis et de fluxu entis oder auch De intelligentiis verbreitete, platonisierende Schrift des 12. Jahrhunderts, die unter anderem aus Dionysius Areopagita, Augustinus und Avicenna schöpft und jedenfalls von einem christlichen lateinischen Autor stammt, wahrscheinlich von Dominicus Gundisalvi. Avicenna zugeschrieben wurde ferner auch ein Liber de causis primis et secundis, der in der Nachfolge des pseudo-aristotelischen Liber de causis steht und ebenfalls im 12. Jahrhundert in Toledo entstand.
In der lateinischen Scholastik wurde Avicenna zu dem – nach Averroes – angesehensten Vertreter der Persischen Philosophie und Vermittler der aristotelischen Philosophie und Naturkunde. Seine Werke wurden nicht nur an den Artistenfakultäten und von Theologen wie Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, sondern seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert auch und besonders an den medizinischen Fakultäten, und dort dann sowohl unter medizinischen wie auch philosophischen Fragestellungen rezipiert, wobei besonders Montpellier in Frankreich und Bologna in Italien eine Schlüsselrolle spielten. In Montpellier gehörte der Kanon seit 1309 (und bis 1557) zum medizinischen Pflichtprogramm. In Bologna wurde die Rezeption maßgeblich von Taddeo Alderotti († 1295), Professor seit 1260, initiiert, dessen Schüler Dino del Garbo die Ansätze in Bologna, Siena, Padua und Florenz weiterführte. Dinos Schüler Gentile da Foligno wiederum, der vornehmlich in Siena und Perugia wirkte, verfasste den ersten annähernd vollständigen lateinischen Kommentar des Kanon, ein Unterrichtswerk, das dann bis ins 16. Jahrhundert große Wirkung entfaltete.
Neue lateinische Übersetzungen des Kanon und weiterer, bis dahin zum Teil unübersetzter Schriften Avicennas fertigte Andrea Alpago († 1522) aus Belluno an. Alpago war rund dreißig Jahre lang als Arzt an der venezianischen Gesandtschaft in Damaskus tätig und studierte dort arabische Handschriften der Werke von Avicenna und Averroes und ihrer arabischen Kommentatoren. Seine Bearbeitung des Kanon, die 1527 erstmals im Druck erschien, entstand als kritische Revision und Glossierung der etablierten Übersetzung von Gerhard von Cremona. Sie wurde seit der Erstausgabe in mehr als 30 Neuauflagen und Neuausgaben gedruckt. Der Kanon blieb bis ins 17. Jahrhundert eines der Hauptwerke der medizinischen Wissenschaft.