"Clark projiziert die Atmosphäre von 1914 auf die 1990er Jahre"
L.I.S.A.: Clark wagt in seinem Buch mehrmals Analogien zwischen den Serben von 1914 und den Serben in den 1990er Jahren und zwischen dem Krieg auf dem Balkan von 1914 und in den 1990er Jahren? Ist das legitim und hilfreich? Projiziert Clark möglicherweise das heutige Bild des Westen von den Serben auf die Geschehnisse von 1914?
Prof. Sundhaussen: Das hängt davon ab, was konkret verglichen wird und was das tertium comparationis ist. Zwischen den Balkankriegen von 1912/13 (weniger dem Ersten Weltkrieg) und den Kriegen in den 1990er Jahren gibt es einige Ähnlichkeiten. Sie betreffen die Bedeutung der paramilitärischen Banden, die „Arbeitsteilung“ zwischen regulärer Armee und irregulären Einheiten, die Verwischung der Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten (Soldaten und Zivilisten) sowie die „Legitimierung“ der Kriegsziele, an denen sich nichts verändert hat. Nach meinem Eindruck waren jedoch die nationale Euphorie und die Kriegsbereitschaft Anfang des 20. Jahrhunderts größer als in den 1990er Jahren. Die vielen Desertionen und die verschiedenen Proteste gegen Miloševićs Politik in den 90er Jahren sprechen eine deutliche Sprache. Die Bedrohungsszenarien und Feindbilder waren (mit zeitlich bedingten Modifizierungen) ähnlich wie am Anfang des Jahrhunderts, aber im Übergang von den 1980er zu den 90er Jahren hatten die Menschen eine große Krise durchlebt, die ein enormes Ausmaß an Verunsicherung und Orientierungslosigkeit hervorgebracht hatte. Davon war am Vorabend des Ersten Weltkriegs nichts zu spüren. Clark projiziert nicht das heutige Bild des Westens von den Serben auf die Geschehnisse von 1914, sondern er projiziert die Atmosphäre von 1914 auf die 1990er Jahre. Das ist – denke ich – falsch.
"Ich unterscheide zwischen Geschichte und Vergangenheitsbildern"
L.I.S.A.: Welche Rolle spielt die Geschichte für das Selbstverständnis bei den Serben heute? Ändert sich dort das Geschichtsbild von einer nationalistischen zu einer stärker differenzierten Sicht der Dinge?
Prof. Sundhaussen: Die Geschichte spielt im Selbstverständnis der serbischen Gesellschaft nur eine sehr geringe oder keine Rolle (zumindest wenn man unter „Geschichte“ die wissenschaftliche Beschäftigung mit Vergangenheit versteht). Anders verhält es sich mit Vergangenheitsbildern, die zwar partiell historisch, aber in ihrem Gehalt ahistorisch sind. Ich unterscheide also (gleich vielen anderen) zwischen Geschichte und „Erinnerung“ oder Geschichte und Vergangenheitsbildern. Die Auseinandersetzung mit historischen Mythen steckt in Serbien noch in den Anfängen, obwohl die Zahl derjenigen, die sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, zunimmt. Aber der Weg von der wissenschaftlichen Forschung über Schulbücher, Museen, Denkmäler etc. bis in die Köpfe der Menschen hinein braucht seine Zeit. Das ist in Serbien heute nicht anders, als es in Deutschland (oder anderswo) in der Vergangenheit war.
L.I.S.A.: Clark wagt in seinem Buch mehrmals Analogien zwischen den Serben von 1914 und den Serben in den 1990er Jahren und zwischen dem Krieg auf dem Balkan von 1914 und in den 1990er Jahren? Ist das legitim und hilfreich? Projiziert Clark möglicherweise das heutige Bild des Westen von den Serben auf die Geschehnisse von 1914?
Prof. Sundhaussen: Das hängt davon ab, was konkret verglichen wird und was das tertium comparationis ist. Zwischen den Balkankriegen von 1912/13 (weniger dem Ersten Weltkrieg) und den Kriegen in den 1990er Jahren gibt es einige Ähnlichkeiten. Sie betreffen die Bedeutung der paramilitärischen Banden, die „Arbeitsteilung“ zwischen regulärer Armee und irregulären Einheiten, die Verwischung der Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten (Soldaten und Zivilisten) sowie die „Legitimierung“ der Kriegsziele, an denen sich nichts verändert hat. Nach meinem Eindruck waren jedoch die nationale Euphorie und die Kriegsbereitschaft Anfang des 20. Jahrhunderts größer als in den 1990er Jahren. Die vielen Desertionen und die verschiedenen Proteste gegen Miloševićs Politik in den 90er Jahren sprechen eine deutliche Sprache. Die Bedrohungsszenarien und Feindbilder waren (mit zeitlich bedingten Modifizierungen) ähnlich wie am Anfang des Jahrhunderts, aber im Übergang von den 1980er zu den 90er Jahren hatten die Menschen eine große Krise durchlebt, die ein enormes Ausmaß an Verunsicherung und Orientierungslosigkeit hervorgebracht hatte. Davon war am Vorabend des Ersten Weltkriegs nichts zu spüren. Clark projiziert nicht das heutige Bild des Westens von den Serben auf die Geschehnisse von 1914, sondern er projiziert die Atmosphäre von 1914 auf die 1990er Jahre. Das ist – denke ich – falsch.
"Ich unterscheide zwischen Geschichte und Vergangenheitsbildern"
L.I.S.A.: Welche Rolle spielt die Geschichte für das Selbstverständnis bei den Serben heute? Ändert sich dort das Geschichtsbild von einer nationalistischen zu einer stärker differenzierten Sicht der Dinge?
Prof. Sundhaussen: Die Geschichte spielt im Selbstverständnis der serbischen Gesellschaft nur eine sehr geringe oder keine Rolle (zumindest wenn man unter „Geschichte“ die wissenschaftliche Beschäftigung mit Vergangenheit versteht). Anders verhält es sich mit Vergangenheitsbildern, die zwar partiell historisch, aber in ihrem Gehalt ahistorisch sind. Ich unterscheide also (gleich vielen anderen) zwischen Geschichte und „Erinnerung“ oder Geschichte und Vergangenheitsbildern. Die Auseinandersetzung mit historischen Mythen steckt in Serbien noch in den Anfängen, obwohl die Zahl derjenigen, die sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, zunimmt. Aber der Weg von der wissenschaftlichen Forschung über Schulbücher, Museen, Denkmäler etc. bis in die Köpfe der Menschen hinein braucht seine Zeit. Das ist in Serbien heute nicht anders, als es in Deutschland (oder anderswo) in der Vergangenheit war.
Serbien und die Serben in Clarks "Schlafwandler" | L.I.S.A. WISSENSCHAFTSPORTAL GERDA HENKEL STIFTUNG
Das Attentat von Sarajevo 1914 auf den habsburgischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie hat der bosnische Serbe Gavrilo Princip begangen. Der Mord gilt als der entscheidende Funke, der das Pulverfass Europa im Sommer 1914 entzündete. Christopher Clark entwickelt seine...
lisa.gerda-henkel-stiftung.de