[h=1]Ausnahmezustand in Darmstadt[/h]
Die Lilien können gegen St. Pauli ein mittelgroßes Wunder vollbringen und den Durchmarsch in die Bundesliga realisieren. Trainer Dirk Schuster achtet darauf, nicht von der Welle der Begeisterung erfasst zu werden.
Der sehr fleißige und umtriebige Darmstädter Medienbeauftragte Tom Lucka ist noch kein alter Hase im Geschäft, er ist 24 Jahre jung und seit dieser Saison mit der Aufgabe betraut, die Pressearbeit des Vereins zu lenken. Doch das dass, was sich derzeit in Darmstadt rund ums Böllenfalltor abspielt, nicht die Normalität ist, das spürt Tom Lucka natürlich auch, er spürt es am eigenen Leib.
„Seit zwei Wochen herrscht hier ein kleiner Ausnahmezustand“, sagt er. 15, 16 Stunden arbeitet er am Tag, sein Handy glüht förmlich, um die 100 Telefonate führt er täglich. Es geht um Akkreditierungsanfragen, Interviewwünsche, kurzfristige Gesprächsbitten. „Es ist spürbar, dass hier etwas Außergewöhnliches passiert“, erzählt der Pressechef.
Die Medien rennen den Lilien die Bude ein, nicht nur die lokale Presse interessiert sich, nein, seit der SV Darmstadt 98 kurz vor dem Aufstieg in die Bundesliga steht und an einem mittelgroßen Fußball-Wunder werkelt, möchte auch die überregionale Presse wissen, was da so los ist bei diesem traditionsbeladenen Verein aus Südhessen.
„Zeit, Spiegel, Spiegel Online, Süddeutsche“, zählt Tom Lucka auf. Sie alle kommen zum Aufstiegsendspiel am Sonntag (15.30 Uhr) gegen den FC St. Pauli. Die Ausgangslage ist einfach: Gewinnen die Lilien gegen erstarkte Hamburger, gehören sie erstmals seit 33 Jahren wieder dem elitären Zirkel der Erstklassigen an.
Lucka lehnt keinen Journalisten ab, aber Einfallsreichtum ist gefragt. Denn die Kapazität im Stadion ist arg begrenzt, weshalb ein Teil der Reporter, auch die der renommierten Blätter, das Spiel in einem abgetrennten Bereich in der Nordkurve verfolgen werden. Das ist ein Stehplatzblock.
Tom Lucka hat in dieser Woche gar nicht mehr alles unter einen Hut bringen können. Die Interviewwünsche wurden zu viel, man hat, wie bei der Nationalmannschaft, nur noch Pool-Interviews angeboten, also ein Spieler für mehrere Medien. Abgelehnt habe man aber nichts. „Wir lassen immer noch viel zu, wir wollen diesen Hype auch nachhaltig nutzen, den Schwung mitnehmen.“
Die Zahlen sind beeindruckend: Seit dem live gesendeten Fernsehspiel am Montagabend in Karlsruhe hat der Verein bei
Facebook binnen fünf, sechs Stunden 6000 neue Follower gewinnen können, „
Instagram und
Twitter boomen auch“, berichtet Lucka. Eine bessere Werbung als dieser sportliche Höhenflug, als dieses Märchen vom Bölle kann es für den Klub gar nicht geben. Auch für die Stadt nicht. Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne) ist begeistert von den Imageträgern: „Keine Hochglanzbroschüre könnte den Geist unserer Stadt besser verkörpern. Die 98-er sind pures Stadtmarketing.“
Die Spieler machen alle Aktionen bereitwillig mit, sie zicken nicht. Sie kennen auch die Schattenseiten des Geschäfts. „Keiner ist genervt, die Spieler genießen die Situation auch.“ Dass die Darmstädter am Sonntag mit einem Sieg den Durchmarsch von der dritten Liga hinauf ins Oberhaus perfekt machen können, nötigt der Branche allergrößten Respekt ab.
Sehr viel mehr Hochachtung kann den Lilien kaum widerfahren. Christian Streich etwa, der Trainer des
SC Freiburg, fand mitten im Abstiegskrimi noch Zeit, die Darmstädter ausreichend zu würdigen: „Was die miteinander gepackt haben, das ist Wahnsinn. Da kann ich nur alle Hüte ziehen.“
[h=3]Größte Partymeile des Landes[/h]Trainer Dirk Schuster nimmt das am Rande wahr. Klar freut er sich über das Lob, aber er achtet darauf, nicht von der Welle der Begeisterung erfasst zu werden. „Ich versuche, aus der Stadt wegzubleiben“, sagt er. Dort herrscht Ausnahmezustand, eine ganze Stadt ist im Fieber, noch dazu ist am Wochenende das traditionsreiche Schlossgrabenfest. Ganz Darmstadt könnte zur größten Partymeile Deutschlands werden.
„Gefühlt hat jedes zweite Auto eine Lilie hinten drauf, Fahnen hängen aus dem Fenster“, sagt Schuster. Als er seine Mission in Darmstadt begann, weit hinten in der Tabelle in Liga drei, da sei er von „älteren Herren mit Hund angebellt“ worden: „Ihr müsst mal wieder ein Spiel gewinnen oder wollt ihr absteigen?“ Jetzt sind nicht nur die Hunde, auch die Herrchen viel freundlicher: „Das“, sagt Schuster lachend, „ist deutlich angenehmer.“
Darmstadt 98: Ausnahmezustand in Darmstadt | Lilien - Frankfurter Rundschau