Die Unfähigkeit zur Politik
Die Debatte über den Ukraine-Krieg zeigt die Unfähigkeit der deutschen Politik, eigene Interessen zu definieren, die nicht dieselben sind wie die der USA. Denn der wirtschaftliche Niedergang durch Sanktionen kann ebensowenig im deutschen und europäischen Interesse liegen, wie Kriegspartei in einem langen Zermürbungskrieg gegen Russland zu werden, der sich zu einem Weltkrieg ausweiten könnte.
Der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine hat eine lange, von geopolitischen Interessen geprägte Vorgeschichte. Bezeichnenderweise besteht insbesondere seit Beginn des russischen Angriffskriegs kaum Interesse daran, diese Hintergründe zu analysieren. Ganz im Gegenteil: Wer Hintergrundanalysen durchführt, die zu der Erkenntnis führen, dass Russlands militärische Aggression politisch von den Vereinigten Staaten mitverursacht wurde, sieht sich schnell als „Putinversteher“ geschmäht – eine Etikettierung, die dazu dient, inopportune Argumente als nicht diskurswürdig zu markieren.
Nur: Wie will man einen Konflikt lösen, wie will man zu einem tragfähigen Frieden finden, wenn man nicht analysiert, welche Aktionen und Reaktionen und welche geostrategischen Interessen zu dem Punkt geführt haben, an dem sich Putin entschloss, die Ukraine anzugreifen? Wer sich solchen Analysen verweigert, verliert die Fähigkeit, einen Interessenausgleich herbeizuführen, welcher die Basis für eine stabile Friedensordnung bildet. Das wirft Fragen auf: Wie konnte es die Ukraine betreffend zu diesem Verlust kommen? Und was bedeutet dieser Verlust für die Zukunft der Ukraine beziehungsweise Europas?
Je tiefer man in die Vorgeschichte eintaucht, desto klarer kristallisiert sich heraus, dass die Ukraine aufgrund ihrer geostrategischen Lage für die beiden Großmächte USA und Russland von überragender Bedeutung ist. Russland betrachtet die Ukraine als Teil seiner Einflusssphäre und als zentralen Baustein seiner sicherheitspolitischen Interessen. Die USA hingegen wollen ihren geostrategischen Einfluss in Europa sichern und ausbauen. Die Nato-Osterweiterung stellt hierfür das wichtigste strategische Instrument dar.
Russland akzeptierte die ersten beiden Erweiterungsrunden (1999 und 2004), die vormalige Warschauer-Pakt-Staaten umfassten. Es machte aber – nachdem auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im Jahr 2008 die Ukraine zum Beitrittskandidaten erklärt wurde – mehr als deutlich klar, dass eine Aufnahme der Ukraine in die Nato absolut inakzeptabel sei, da dies seine Sicherheitsinteressen im Kern berühre. Nachdem sich im Zeitraum 2008 bis 2020 Konfrontations- und Entspannungsphasen abwechselten, änderte sich die Dynamik im Frühjahr 2021.
Washington ist erstaunlich desinteressiert an einer politischen Lösung
Zu diesem Zeitpunkt kam eine politische Eskalationsspirale in Gang, bei der beide Seiten unnachgiebig ihre Interessen verfolgten: Moskau wollte (und will), koste es, was es wolle, verhindern, dass die Ukraine noch stärker in die Nato-Strukturen eingebunden wird; Washington wollte (und will), ebenfalls koste es, was es wolle, genau diese Einbindung vorantreiben.
Obwohl sich ab Herbst 2021 abzeichnete, dass diese politische Eskalationslogik zu einem militärischen Lösungsversuch des Konflikts seitens Russlands führen könnte, zeigte sich Washington erstaunlich desinteressiert an der Herbeiführung einer politischen Lösung. Insbesondere die am 10. November 2021 verkündete Neufassung der „U.S.-Ukraine Charter on Strategic Partnership“ aus dem Jahr 2008 lässt erkennen, dass Deeskalation nicht als politisches Gebot der Stunde gesehen wurde. Der Schwerpunkt der Charta liegt auf der militärischen Kooperation, um der „russischen Aggression entgegenzuwirken“. Dazu gehört die Absichtserklärung der USA, die Ukraine auf allen Ebenen – inklusive der militärischen – zu unterstützen, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen. In erster Linie heißt das, die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 rückgängig zu machen. Die Charta betont zudem, dass die USA das Recht der Ukraine auf Nato-Mitgliedschaft nachdrücklich unterstützen. Damit sendeten die USA das eindeutige Signal nach Moskau, dass sie nicht bereit waren, die russischen geostrategischen und sicherheitspolitischen Interessen zu berücksichtigen.
https://www.cicero.de/aussenpolitik/...onen-olembargo