Dr. Gerayer Koutcharian
Leidensgeschwister – Dersim und Armenien
Ich gebe zu, ich wusste und weiß zu wenig über Dersim und Dersimer. Dies ist nicht zuletzt
eine Folge des Schicksals, dass Dersimern und Armeniern gemeinsam zugestoßen, aber getrennt
erfahren wurde. Denn unsere Völker sind beide Opfer des größten aller Staatsverbrechen
geworden, des Völkermordes. 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, wurden die armenischen
Bürger des Osmanischen Reiches Opfer von Massakern und Todesmärschen. Die politisch
Verantwortlichen kamen nicht, wie von den Alliierten in Aussicht gestellt, vor ein internationales
Tribunal. Die meisten jungtürkischen Völkermörder konnten ins Ausland fliehen,
der Hauptverantwortliche nach Deutschland, wo er mit Wissen und Duldung des Auswärtigen
Amtes und Preußischen Justizministeriums Unterschlupf fand. Schon 1919 ging deshalb das
Morden weiter, diesmal an der noch verbliebenen griechisch-orthodoxen Bevölkerung des
Osmanischen Reiches und durch ein neues Regime: das der nationalistischen Gegenregierung
unter Mustafa Kemal. Mehr noch als die Verbrechen an den Armeniern blieben die Verbrechen
an Griechen und aramäischsprachigen Christen bis heute juristisch und politisch unbewältigt.
Die selben Methoden, die schon bei dem Völkermord an bis zu 3,5 Millionen Christen Kleinasiens
und Mesopotamiens im letzten Jahrzehnt osmanischer Herrschaft Anwendung fanden,
wurden auch in den 1930er Jahren eingesetzt, als es der kemalistischen Führung darum ging,
die letzte autonome Region Ostanatoliens zu unterwerfen. Manche beschreiben dies als einen
Akt der Kolonisierung, manche als militärische Strafaktion, andere, wie der aus einer kurdisch-
türkischen Familie stammende Regierungschef Ismet Inönü, als Modernisierungsmaßnahme.
Derselbe Inönü hatte schon 1925 die Rangfolge zwischen Türken und Nicht-Türken
festgesteckt: "Wir sind offen nationalistisch. Nationalismus ist der einzige Grund, der uns
zusammenhält. Außer der türkischen Mehrheit soll kein anderes [ethnisches] Element irgendeinen
Einfluss besitzen. Wir werden jene, die in unserem Land leben, um jeglichen Preis türkisieren
und jene zerstören, die sich gegen die Türken und das Türkentum erheben.“
Viele Einzelheiten dieser Zerstörung kennen wir Armenier aus unserer eigenen Geschichte:
das Erstellen von Listen der weltlichen und geistlichen Führer, die in Vorbereitung der Vernichtung
festgenommen oder verschleppt wurden, um ungestört die führungslose Bevölkerung
auf Todesmärsche zu schicken; das Verschleppen und Assimilieren von zahlreichen
Kindern, die ihrer Religion und ihrem Volkstum durch gezielte Assimilation entfremdet wurden.
Gut vertraut ist uns auch die zynische Sprache der Täter. Uns bezeichneten jungtürkische
Völkermörder als Bakterien und Bazillen. Dersim nannte man ein Geschwür und einen Abzess,
den es zu entfernen galt. Staatsgründer Mustafa Kemal nannte Dersim „diesen furchtbaren
Eiter in unserem Inneren“, den man „samt der Wurzel anpacken und säubern“ müsse1.
Diese radikale Säuberung ist nicht nur durch die üblichen Massaker geschehen, sondern durch
Giftgaseinsätze und Luftangriffe.
Mit den Völkermorden von 1915 und 1938 zerbrach eine uralte Nachbarschaft. Nur bei Bedarf
sind den türkisch-nationalistischen Ideologen noch die engen Zusammenhänge zwischen
Armeniern und Dersimern geläufig. So behauptete am 18. August 2007 der damalige Vorsitzende
der türkischen Historikergesellschaft, Yusuf Halacoglu, dass der Großteil der Dersimer
konvertierte Armenier seien und dass sich eine Liste dieser Konvertiten aus dem Jahr 1936/37
in seinem Besitz befinde. Vermutlich lässt sich die Bekämpfung der Dersimer Bevölkerung
leichter durchführen, falls man sie als Armenier verunglimpft. Schauen wir uns die Zusammenhänge
genauer an: Bis in die 1870er Jahre bildete Dersim eine halbautonome Provinz des
Osmanischen Reiches, die aus einem flachen und einem waldbedeckten, fast 2000 Meter hohem
Gebirgsteil bestand. Während die Ebene im 19. Jh. zunehmend unter die Kontrolle des
osmanischen Staates geriet, konnten in dem fast unzugänglichen Gebirgshorst die Dersimer
ihre Unabhängigkeit lange verteidigen. Die Bevölkerung des historischen Dersim umfasste
bis zum 1. Weltkrieg 200.000 Menschen, von denen bis zu 70.000 – also 45% der Gesamtbevölkerung
- Armenier waren. Aus nicht-armenischen historischen Quellen wissen wir, dass ab
dem 17. Jahrhundert Armenier aus Bingöl, aus Sebastia bzw. Sivas, aus Jerznka bzw. Erzincan,
aus Charberd bzw. Harput dem türkischen Druck auswichen und ihre Zuflucht in Dersim
suchten, wo manche zum Kizilbaschentum übertraten. Dersimer Kinder wiederum besuchten
armenische Schulen.
Die Beziehungen zwischen den Dersimern und den Armeniern waren freundlich, zumal die
Dersimer sich weder den Mörderbanden der Hamidiye und ihren Nachfolgern, den Azadi-
Milizen, anschlossen, noch beteiligten sie sich am kemalistischen Unabhängigkeitskrieg gegen
die letzten indigenen Christen. Während des Ersten Weltkrieges retteten die Dersimer
etwa 30-40.000 Armeniern das Leben, von denen die meisten nach Ostarmenien flüchten
konnten. Der geringere Teil blieb in Dersim und assimilierte sich an die Mehrheitsbevölkerung.
Unsere gemeinsamen religiösen und kulturellen Wurzeln reichen weit in die vorchristliche,
von iranischen Kulturen geprägte Vergangenheit der Region zurück. Es ist sicher kein Zufall,
dass die Region der Munzur-Berge – im Armenischen Mndsur – im vorchristlichen Glauben
als Heimat unserer Götter galt. Besonders bedeutende Kultstätten hat vermutlich das Christentum
übernommen, so etwa im Fall der armenischen Surb Karapat-Kirche von Halwor, zu der
sowohl armenische Christen, als auch Kisilbaschen pilgerten. In seinem 1900 in Tiflis erschienen
Buch „Dersim“ berichtete der armenische Autor Andranik von dem armenischen
Stamm der Mirakjan, die mit den Kisilbaschen Zentral- oder Berg-Dersims in Harmonie zusammenlebten.
Andranik gibt die Zahl der Mirakjan mit 8.000 an. Sie sprachen einen besonderen
Dialekt und gelten sich als Nachkommen des in der armenischen Geschichte berühmten
Adelsgeschlechts der Mamikonjan. Gemeinsam mit den Kisilbaschen der Region galten sie
traditionell als Hüter des Heiligtums von Halwor. Der Stamm der Mirakjan hatte dreitausend
Männer unter Waffen, wenn sie an den Kämpfen der Dersimer gegen die osmanische Armee
teilnahmen. Als 1834 Reschid Pascha mit einer Streitmacht von 40.000 anrückte, spielten die
Mirakjan eine herausragende Rolle bei der Selbstverteidigung.