In der Türkei lässt sich gegenwärtig ein Paradoxon bestaunen: Die Befürworter von Reformen und Europäisierung sind gerade nicht die laizistischen Nationalisten, sondern gemäßigte Muslime. Dieser von Kommentatoren immer wieder staunend hervorgehobene Gegensatz wird aber gemeinhin überbewertet. Denn Nationalgefühl, nationale Identität und Nationalismus sind im türkischen Fall eng mit islamischer Identität verknüpft. Als Beispiel kann Regierungschef Recip Tayyip Erdoğan selber dienen, der in einer politischen Rede – damals noch als Oberbürgermeister von Istanbul – in der südostanatolischen Stadt Siirt im Dezember 1997 folgende Gedichtzeilen zitierte: „Die Moscheen sind unsere Baracken, die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln sind unsere Helme, die Gläubigen sind unsere Soldaten.“[41] Diese während des Balkankrieges 1913 veröffentlichten, gotteskriegerischen Verse aus dem Gedicht „Asker Duasi“ („Gebet eines Soldaten“) stammen von Ziya Gökalp (1876– 1924), dem Chefideologen der Partei „Einheit und Fortschritt“, die für den Völkermord an den Armeniern, aramäischsprachigen Christen und kleinasiatischen Griechen verantwortlich war. Türkischer Nationalismus und muslimische Intoleranz sind durchaus kompatibel. Das Reformverhalten der AKP und namentlich ihr Umgang mit religiösen Minderheiten sind also weiterhin kritisch zu beobachten. Dabei wird es vor allem um die Frage gehen, ob die islamische Partei bereit und in der Lage ist, historische Tabus zu brechen und die für Christen verhängnisvolle Gleichsetzung von nationaler und religiöser türkischer Identität zu beenden.