Angst vor der Geschichte
Pavlos Voskopoulos erregt sich: „Die Athener Regierung behauptet, wir seien slawophone Griechen. Aber wir sind Makedonier, wir sind Slawen!" Der junge Architekt sitzt auf dem Hauptplatz des nordgriechischen Städtchens Florina, schlürft griechischen Kaffee und klagt, die Regierung unterdrücke die „makedonische Minderheit". Florina heiße eigentlich Lerin, sogar sein eigener Nachname sei von den Griechen verfälscht worden; richtig sei Filipov „Wir haben keine Schulen in unserer Sprache", redet sich der bekennende Slawe in Rage, „wir dürfen keine Vereine gründen, ja, wir werden sogar gerichtlich verfolgt!"
Das klingt erschreckend und scheint jene Behauptungen zu untermauern, die im jungen nördlichen Nachbarland - in der ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien - seit langem kursieren und bereits Menschenrechtsorganisationen beunruhigt haben.
Wie leben die „Slawen" im griechischen Makedonien?
In dem 200 Seelen Dorf Lofi bei Florina wohnen alteingesessene makedonische Familien. Die Männer des Dorfes drängen sich im Kaffeehaus um vier Spieler, Karten fliegen über den Tisch. Sie fluchen auf griechisch, auf slawisch. Sind sie Slawen? „Nein, natürlich sind wir Griechen " Einer ist anderer Meinung: „Ich bin Slawe Ist er unterdrückt? „Unfug, von wem denn? Ich bin doch genauso griechischer Bürger wie alle anderen Einer slawo makedonischen Bewegung würde er sich nicht anschließen: „Das sind Aktivisten. Bei uns im Dorf gibt es auch einen. Soll er doch protestieren, niemand hindert ihn Das Kartenspiel geht weiter.
Lofi ist keine Ausnahme. Die meisten slawisch sprechenden Makedonier in Nordgriechenland fühlen sich nicht als unterdrückte Minderheit, sondern als Teil der erdrückenden Mehrheit. Zwischen 50000 und 100000 Griechen beherrschen den slawischen Dialekt, einige haben ihn nachträglich gelernt - fürs Geschäft, denn der Dialekt ist Marktsprache. Und er wird gesungen.
Demetrias Suljotis wuchs in einer makedonischen Familie auf, in der Griechisch und Slawisch gesprochen wurde. Seme Vorfahren wohnten in Monastiri, einer Stadt jenseits der Grenze, die von den Slawo Makedoniern Bitola genannt wird. Als sie 1912 serbisch wurde, zogen viele Griechen nach Süden, nach Florina. Doch noch heute hat Suljotis Verwandte in Bitola. Lange Jahre besuchte man sich, doch seit 24 Monaten kommen die Verwandten nicht mehr.
Sie sind Opfer des Namensstreits zwischen Griechenland und seinem jungen nördlichen Nachbarn, der jetzt „ehemalige jugoslawische Republik Makedonien" heißt: Die Behörden in der Hauptstadt Skopje stellen ihren Bürgern Pässe mit der Staatsbezeichnung „Makedonien" aus und die Griechen erkennen diese Dokumente nicht an. Florina ist seit Beginn des Namensstreits ärmer geworden, ärmer an Besuchern, an Touristen, an Kunden aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die slawischen Verkaufsschilder sind verschwunden, und die Stadt dient auch nicht mehr als Brücke zwischen zwei Ländern, sondern sieht sich plötzlich in ein Randgebiet abgedrängt. Die Zahl der Arbeitslosen wächst.
Am Grenzübergang in Niki übertönt das Gebell streunender Hunde die wenigen Autos. Im griechischen Zöllnerhaus verkünden Aufkleber: „Makedonien ist griechisch", darüber prangt der Sonnenstern von Vergina, das dynastische Symbol des antiken makedonischen Königs Philipp II. Fünfhundert Meter weiter, auf slawo makedonischer Seite, weht die Flagge des jungen Staats mit eben derselben Sonne; Historiker aus Skopje haben Philipp II inzwischen zum Slawen ehrenhalber erklärt. Der die Welt skurril anmutende Streit hat schon EG Gipfel und UN Sitzungen beschäftigt, aber er illustriert auch: Makedonien verkettet das Nato- und EG Mitglied Griechenland mit allen Konflikten auf dem Balkan.
„Wir haben die Angst erst vor wenigen Jahren überwunden", sagt der Grieche Demetrios Suljotis und verweist auf die Geschichte Über Makedonien marschierten im Zweiten Weltkrieg die Deutschen nach Griechenland ein; damals hielten die mit Hitler verbündeten Bulgaren Ägäis Makedonien jahrelang besetzt. Die Griechen selbst hatten diesen südlichen Teil Makedoniens mit Thessaloniki erst im Balkankrieg 1912 den Türken abgerungen. Seinerzeit lebten in der Hafenstadt Griechen, Viachen, Roma, Serben, Bulgaren, Türken und Juden. Griechenlands heutiger Präsident Karamanlis wurde hier geboren und auch der Türkenführer Atatürk. Noch bevor die Deutschen hier die Juden ermordeten, begann Athen, alle Nationalitäten zu assimilieren oder im Bevölkerungsaustausch mit der Türkei und Bulgarien umzusiedeln Ägäis Makedonien wurde in den zwanziger Jahren vollends griechisch.
Doch 1944 versuchte der jugoslawische Führer Tito aus dem griechischen Bürgerkrieg Kapital zu schlagen. Er bastelte aus dem nördlichen Makedonien - damals ein Teil Serbiens - eine eigene Republik samt einer eigenen Nationalideologie: Die Vereinigung des ganzen Makedonien und die Befreiung der „unterdrückten slawischen Brüder" in Griechenland wurden zum höchsten Ziel deklariert. Damit sympathisieren noch heute viele Angehörige der stärksten Oppositionspartei in Skopje. Die slawo makedonische Verfassung fordert von der Regierung eine Fürsorgepflicht für „Angehörige des makedonischen Volks in den Nachbarländern". Auch wenn man in einem Zusatz jeder Einmischung abschwört - Skopje spielt mit dem Begriff Minderheit. Und der kommt auf dem Balkan einem Streichholz im Benzinlager gleich.
Viele Griechen reagieren sensibel auf den nördlichen Nachbarn. Der Bischof von Florina grummelt in seinen zerzausten Bart: „Makedonien ist griechisch und wird es immer bleiben!" Mit Luther fügt er hinzu: „Hier stehe ich und kann nicht anders Der sozialistische Parlamentsabgeordnete Stelios Papathemilis sitzt umrankt von Vergina Sonnen und historischen Landkarten in seinem Büro und warnt: „Jedes Nachgeben in der Namensfrage wird uns als Schwäche ausgelegt Wer als Tourist die antiken Ausgrabungsstätten von Vergina und Pella besucht, den weist der Führer mit Nachdruck auf die griechischen Inschriften hin. Der Historiker loannis Hasiotis aber warnt mit Blick auf Jugoslawien: „Die Griechen leben am Rande des Brandherdes. Wir müssen lernen, unser Sicherheitsbedürfnis der Welt rational zu erklären "
Genau das haben die griechischen Politiker versäumt, als sie den Streit auf den Namen verengten. Gleich auf mehreren EG Treffen bestand der damalige Außenminister Antonis Samaras darauf, der Name „Makedonien" dürfe in der Staatsbezeichnung Skopjes nicht auftauchen, andernfalls werde Athen die Anerkennung des Landes in Brüssel blockieren. Zwar entließ Ministerpräsident Konstantin Mitsotakis inzwischen den eifernden Samaras, der jetzt eine nationalistische Partei gegründet hat; aber sogar der gemäßigte Mitsotakis verfolgte lange Zeit keine andere Politik. Auch die oppositionellen Sozialisten von Andreas Papandreou forderten mit populistischem Gespür einen harten Kurs gegenüber Skopje. So schürten sie allesamt das Nationalgefühl der Menschen, statt nach diplomatischen Lösungen zu suchen. Dieses Skopje Syndrom behinderte jedoch nur die griechische Außenpolitik und den Außenhandel. Dem UN Beitritt der Nachbarn unter dem vorläufigen Namen „Ehemalige jugoslawische Republik Makedonien" haben auch die Griechen schließlich zugestimmt. Längst betrachten kühle Köpfe in Athen den Namensstreit als eine verlorene Sache: An einem zusammengesetzten Namen für den Nachbarn führe kaum ein Weg vorbei. Der Balkanvermittler David Owen hat kürzlich „Neu Makedonien" vorgeschlagen, was beide Seiten brüsk ablehnten, aber nicht ihr letztes Wort sein muß. Denn Präsident Kiro Gligorov hat in Skopje für Herbst 1993 Neuwahlen angesetzt, und auch Mitsotakis wird sich wahrscheinlich noch in diesem Jahr den Wählern stellen müssen. Die beiden - angeblich kompromißbereiten - Staatsführer mußten, wollen sie politisch überleben, die Entscheidung vertagen.
Vorerst demonstriert Mitsotakis an anderer Front Tatkraft. Die Ausweisung eines griechischorthodoxen Priesters aus Albanien nahm Athen zum Anlaß, illegale albanische Einwanderer abzuschieben. Auch hier geht es um ein Minderheitenproblem: In Südalbanien leben Griechen, die von Tirana auf 60 000, von Athen auf über 200 000 geschätzt werden. Um ihre Rechte ist es dürftig bestellt, wie die Behandlung des Priesters zeigt. Die rigorose Ausweisung der albanischen Einwanderer jedoch ist mehr als eine griechische Vergeltungsmaßnahme: Die Politik appelliert erneut an die Emotionen der Wähler, an die Abneigung gegenüber den Armutsflüchtlingen, die zumeist niedere Arbeiten verrichten, bisweilen aber auch an Einbrüchen, Raubmorden und Vergewaltigungen beteiligt sind. Mitsotakis wirbt mit der „Operation Besen" auch um Stimmen.
Längst bereiten Athen die offenen Grenzen zu den ehemaligen kommunistischen Balkanstaaten mehr Kopfschmerzen als früher der Eiserne Vorhang. Die etwa 200 000 Albaner im Land sind nur ein Teil der illegalen Einwanderer Über die Berge im griechischen Norden kommen Polen, Bulgaren, türkische Kurden, Sinti und Roma und die offiziell erwünschten „pontischen Griechen" aus der ehemaligen Sowjetunion, die kaum Griechisch sprechen. Auf dem Markt in Thessaloniki reden sie alle durcheinander: Die Hauptstadt des griechischen Makedonien wird wieder vielsprachig wie zu Beginn des Jahrhunderts.