Wunder geschehen und es taucht Mal ein ehrlicher Artikel zu diesem Lieblingsthema der deutschen Berichterstattung auf. #SchweigeminuteFuerDenJournalismus
ZEIT: "Natürlich ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei in seiner jetzigen Form schäbig. Aber dass die EU es nun verlängern musste, hat sie sich selbst eingebrockt."
Oh, wie schön sind Feindbilder! Und das Lieblingsfeindbild vieler Europäer ist seit einigen Jahren Recep Tayyip Erdoğan. Der Irre vom Bosporus. Der Sultan von Ankara. Man strahlt ja selbst immer gleich viel heller und demokratischer neben einem so eindeutig freiheitsfeindlichen Politiker. So leidenschaftlich arbeiten sich viele Europäer am türkischen Präsidenten ab, dass sie ihm auch gerne mal die Dinge in die Schuhe schieben, die sie selbst verbockt haben. Zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik.
Nur unter vermeintlich humanitär bewegtem Zähneknirschen hat die EU sich jetzt darauf geeinigt, es weiterhin der Türkei zu überlassen, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Politiker wie der österreichische Kanzler Sebastian Kurz oder der französische Präsident Emmanuel Macron haben sich ebenso wie viele Medien jahrelang Mühe gegeben, das Abkommen als unnötigen Kniefall vor Erdoğan zu verteufeln. Dazu gehört auch das Märchen, die EU würde quasi dem türkischen Präsidenten persönlich Milliarden in die Hand drücken für seine Dienste. Wovon dieser dann womöglich gar seinen Prunkpalast baut, Skandal!
Der EU ist nichts Besseres eingefallen
Das ist nicht nur faktisch falsch, es dient auch der Verschleierung des eigenen Versagens. Die EU verlängert das Abkommen mit der Türkei, weil es ihr nicht gelungen ist, in den fünf Jahren, in denen es bereits gilt, eine andere Antwort auf die Migrationsfrage zu geben als dieses Abschreckungsabkommen. Die Elendslager auf den griechischen Inseln, die Pushbacks, das Auslagern des Problems an die Türkei oder gar an Libyen: Das ist seit 2016 der europäische Weg. Und trotz aller gegenteiliger und gut gemeinter Beteuerungen, gerade deutscher Politiker, man sei nun aber wirklich auf dem Weg zu einer besseren, humaneren, langfristigeren Lösung, ist davon nichts zu sehen.
Zu viele Europäer und ihre Regierungen haben sich längst arrangiert mit einem Status quo, der ihnen den Anblick ertrunkener Menschen nur noch gelegentlich zumutet. Nichts deutet darauf hin, dass sich daran bald etwas ändert. Eine gemeinsame Asylpolitik gibt es jenseits der Abschreckung nicht. Alle Bemühungen darum werden von einem Block, der sich von Österreich über Ungarn bis nach Dänemark erstreckt, mittlerweile geradezu genüsslich abgewürgt: Sie inszenieren sich als Verteidiger der Festung, die die EU tatsächlich längst ist.
Die EU hat sich mit dem Türkei-Abkommen Zeit gekauft, aber nicht genutzt. Der Deal hat die Lage vorübergehend soweit entschärft und die Flüchtlingszahlen reduziert, dass Europa aus dem Modus der akuten Krisenreaktion in den einer echten politischen Problembewältigung hätte finden können. Dass ihr das nicht gelungen ist, bezahlt sie nun mit der Abhängigkeit von Erdoğan.
Vor diesem Hintergrund ist es auch machtpolitisch geboten, die Millionen Flüchtlinge zumindest mitzuversorgen, die auch wegen des Abkommens in der Türkei geblieben sind. 3,5 Milliarden Euro sind ein niedriger Zins für eine Schuld, die die EU offenbar weiterhin nicht bereit ist zu tilgen.
Natürlich ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei in seiner jetzigen Form schäbig. Aber dass die EU es nun verlängern musste, hat sie sich selbst eingebrockt.
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