Das 5. Buch von ihm, herrlich, ich liebe sie alle
David Safier, Muh
MUH» kann so vieles bedeuten. Wenn eine stinknormale Kuh wie ich zum Beispiel panisch muht, kann das heißen: «Der Bauer hat mal wieder kalte Hände» oder «Hilfe, der Bauer fährt betrunken Mähdrescher» oder gar «Oh nein, sie wollen unseren Stier kastrieren!»
Wir Kühe können wütend muhen: «Blöder Elektrozaun!» oder schimpfend «Kinder, hört auf, euch über die Ochsen lustig zu machen» oder einfach nur aus vollstem Herzen glücklich «Gras, Sonnenschein und keinen Bandwurm im Leib - was will man mehr?»
Selbstverständlich sind wir auch in der Lage, traurig zu muhen: «Meine Mama ist gestorben», auch fragend «Was die Menschen wohl mit Mamas Körper machen?» und durchaus skeptisch «Ich finde dieser Big Mac, von dem der Bauer geredet hat, klingt irgendwie nicht gut.»
Wir sind sogar imstande, wenn wir auf der Weide stehen und wiederkäuen, philosophisch zu muhen: «Was hat sich unsere Schöpferin, die Gotteskuh Naia, nur dabei gedacht, als sie den Menschen erfand? Oder die blöden Fliegen? Es wäre doch viel schöner, wenn anstatt der Fliegen bunte Schmetterlinge um uns herumschwirrten. Oder wenn die Fliegen wenigstens schmecken würden. Am besten wären natürlich Schmetterlinge, die auch noch schmecken.»
Und manchmal, ja manchmal muhen wir Kühe zutiefst geschockt.
So wie ich, als ich das fürchterlichste Muhen meines bisherigen Lebens muhte. Es war an jenem Frühlingsnachmittag: Ich stand auf der Weide, sah die dunklen heranziehenden Regenwolken bereits und wollte nicht warten, bis der Bauer die Herde in den Stall trieb. In der letzten Zeit hatte der blöde Kerl uns nämlich öfter mal vergessen. Er war einfach nicht mehr der Alte: Er trank immer mehr von der Flüssigkeit, die die Bäuerin - wir hatten sie schon lange nicht mehr gesehen - Scheißkorn nannte, und er fluchte dabei über Dinge mit merkwürdigen Namen wie Milchquoten, Agrarsubventionen und Prostatitis.
Jedenfalls hatte ich keine große Lust, schon wieder nass zu werden, trottete zurück in den Stall und entdeckte dort, dass die große Liebe meines Lebens, der stattliche schwarze Stier Champion, überraschenderweise bereits in seiner Box stand. Bei seinem Anblick muhte ich den Satz, den wohl keine Kuh gerne über ihren Geliebten muht: «Sag mal, besteigst du da gerade Susi?»
Champion drehte hastig seinen Kopf zu mir, schaute für einen kurzen Moment erschrocken drein und stammelte dann: «Das ... das ist nicht das, wonach es aussieht, Lolle!»
Ja, wir Kühe konnten auch bekloppte Ausflüchte muhen.
«Du stehst aufrecht an ihrem Hinterteil und hast deine Vorderhufe auf ihren Rücken gelegt», erwiderte ich mit zittriger Stimme. «Was soll es denn sonst sein?»
Bei diesem fürchterlichen Anblick hatte ich das Gefühl, dass mein Herz in tausend Stücke gerissen wurde. Gleichzeitig zogen sich meine drei Mägen zusammen, von meinem Pansen ganz zu schweigen.
«Lolle, ich kann dir das alles erklären», versprach Champion mit seiner wunderbar tiefen Stimme und sah mich aus seinen noch wunderbareren tiefen schwarzen Augen an. Ich wäre sicherlich von seinem Augenaufschlag wie immer hin und weg gewesen, wenn er nun mal nicht gerade so bei Susi gestanden hätte. Diese fiese Kuh hatte viele schlechte Eigenschaften: Sie war durchtrieben, eitel, und - das war das Schlimmste von allem - sie sah unglaublich gut aus. Um so vieles besser als ich. Susi war eine richtig dralle Kuh mit glänzendem Fell, und beim Anblick ihres Euters war schon mancher Stier aus Versehen in den Elektrozaun gelaufen. Mein schwarz-weißes Fell hingegen war matt, nichts an meinem Körper veranlasste mich dazu, mich stundenlang beglückt in einer Pfütze zu betrachten. Und kein Stier war jemals wegen meines Euters vom rechten Wege abgekommen.
Susi hatte schon lange ein Auge auf Champion geworfen, aber ich hatte gehofft, seine Liebe zu mir wäre stärker als ihre Verführungskünste. Tief im Innern wusste ich natürlich, dass dies naiv war, wobei naiv noch eine nette Untertreibung ist und selbst schweinedämlich es nicht ganz trifft. (Und Schweine sind ganz schön dämlich, die denken doch tatsächlich, die Welt bestünde nur aus unserem Bauernhof, während wir Kühe von unserer Weide aus bis zu den Bäumen am Ende der Welt sehen können. Jene Bäume, die man nicht passieren darf, weil man dahinter in einen Abgrund stürzt und tagelang fällt, um schließlich in der unendlichen Milch der Verdammnis zu landen.)
Auch wenn Susis Euter so viel verführerischer als der meine war und die Szene vor meinen Augen eindeutig zu sein schien, hoffte ich inständig, Champion würde die Wahrheit sagen. Dass es wirklich nicht das war, wonach es aussah, und dass er mir eine plausible Erklärung für alles liefern konnte. Falls er dies nicht tun könnte, wäre mein Lebenstraum zerstört. Jener Traum, den ich seit dem letzten Sommer träumte: Damals war ich noch eine junge Kuh von gerade mal zwei Sommern gewesen, und in meinem Herzen herrschte eine große Unruhe. Ich war begierig zu erfahren, was der Sinn des Lebens war, doch wenn ich die alten Kühe auf der Weide danach befragte, hörte ich nur: «Grasen ist doch eine ziemlich feine Sache.»
Diese Antwort reichte mir ganz und gar nicht. Das Leben, so dachte ich, musste doch aus mehr bestehen als nur Grasen, Wiederkäuen und den anderen Kühen zu erzählen, was man für einen gigantischen Fladen produziert hatte.
An einem besonders heißen Tag zeigten mir ausgerechnet zwei Eintagsfliegen, was dieses «mehr» sein könnte. Am frühen Morgen wurde ich Zeuge, wie sie aus einer kleinen Gewitterwasserpfütze vor mir schlüpften. Ganz zerbrechlich wirkten die beiden kleinen Geschöpfe in ihren ersten Minuten auf dieser Welt. Schon in diesem jungen Alter fühlten sich die beiden Fliegen zueinander hingezogen. Ich beschloss, sie zu beobachten, und gab ihnen die Namen «Summ» und «Herum». Die beiden niedlichen Wesen verbrachten ihre gesamte Kindheit zusammen mit gemeinsamem Fliegen und Umhertollen, also ungefähr eine halbe Stunde.
Mittags wurden sie zu Mann und Frau. Summ befruchtete seine Herum, ein Vorgang, bei dem ich selbstverständlich dezent wegsah. Die beiden bekamen Kinder. Eintausend Stück. Und ich verzichtete lieber darauf, ihren Babys ebenfalls Namen zu geben.
Liebevoll zogen die beiden Eintagsfliegen ihre Kleinen auf, auch wenn das ziemlich anstrengend war, besonders am Nachmittag, als alle tausend Kinder wilde Heranwachsende waren - anscheinend war dies ein Lebensabschnitt, in dem man nur bedingt zurechnungsfähig war.
Am Nachmittag wurden die Kinder endlich erwachsen. Summ und Herum genossen fortan ihr Leben zu zweit und machten immer wieder Ausflüge zu anderen Pfützen. Gegen Sonnenuntergang wurde ihr Leben noch mal richtig anstrengend, aber auf eine schöne, befriedigende Art und Weise, denn sie halfen ihren Kindern dabei, sich um die eine Million Enkelkinder zu kümmern. Als der Mond schon aufgegangen war, flogen die Liebenden schließlich, vom Alter erschöpft, aber glücklich, Flügel an Flügel umher, bis sie zu Boden sanken. Dort schliefen sie, vom Sternenlicht beschienen, sanft ein, die Flügel liebevoll ineinandergelegt.
Nachdem ich das gesehen hatte, wusste ich: So ein Leben wollte ich auch haben.
Natürlich etwas länger.
Und mit etwas weniger Kindern.
Und darauf, dass auf meinem toten Körper, wie bei den beiden geschehen, noch ein Kuhfladen landet, konnte ich auch gut verzichten. Ansonsten aber sollte mein Leben genauso sein wie ihres. Und ich hatte immer gedacht, Champion würde mein Summ sein.
Jetzt aber war mein Traum dabei zu zerplatzen, es sei denn, Champion hatte wirklich eine plausible Erklärung dafür, warum er so bei Susi stand.
«Lolle, es war so», hob er an, «Susi hat der Rücken gejuckt, und da hat sie mich gefragt, ob ich mal kratzen kann.»
Das war nicht gerade die plausible Erklärung, auf die ich gehofft hatte.
«Für wie blöd hältst du mich eigentlich?», fragte ich, während mir die ersten Tränen in die Augen schossen.
Champion wusste nicht, was er darauf antworten sollte, dafür grinste Susi: «Nun, für wahnsinnig schlau hält er dich offensichtlich nicht.»
Sie hatte sichtlich Spaß daran, mich zu reizen. Aber ich wollte ihr nicht die Genugtuung geben, vor ihr auszurasten oder - noch schlimmer - gar zu weinen. So atmete ich tief durch, hielt meine Tränen mit geradezu überkuhlicher Kraft zurück und erwiderte ganz gefasst: «Dich hingegen schätzt Champion sicherlich für deinen Geist.»
«Genau.»
«Und für deine große Persönlichkeit.»
«So ist es.»
«Deswegen beugt er sich ja auch gerade über dein Hinterteil.»
Susi schnappte sauer nach Luft. Champion wandte sich an mich und erklärte zerknirscht: «Lolle, das hier bedeutet mir nichts ...»
«Na, vielen Dank!», motzte Susi beleidigt.
Für mich war es leider in diesem Moment nur ein geringer Trost, dass ihm das Fremdgehen nichts bedeutete.
Champion versuchte weiter, mich zu beschwichtigen: «Du weißt doch, wir Männer nehmen das nicht so ernst, wenn wir mit einer Frau Liebe machen ...»
Diesmal sagte ich getroffen: «Na, vielen Dank!»
«Ups», erkannte Champion seinen Fehler und versuchte, ihn gleich wieder wettzumachen. «Bei dir ist es was anderes, Lolle. Du weißt, was ich für dich empfinde!» Seine Stimme vibrierte dabei. Womöglich empfand er wirklich noch etwas für mich. Bestimmt sogar. Dummerweise war es nicht so viel, dass er Susis Hinterteil widerstehen konnte.
«Lolle, was kann ich tun, um das alles wiedergutzumachen?», fragte er zerknirscht.
«Zwei Dinge», antwortete ich.
«Was?», wollte Champion eifrig wissen.
«Erst mal eine Kleinigkeit.»
«Welche?»
«STEIG VERDAMMT NOCH MAL VON SUSI AB, WENN DU MIT MIR SPRICHST!»
«Der Meinung bin ich allerdings auch», fand Susi, die sichtlich genervt war, dass Champion sich so sehr um mich bemühte.
Hastig kletterte Champion von Susi herunter, und die trottete total beleidigt in ihre eigene Stallbox. Dabei rief sie ihm noch zu: «Es mit dir zu treiben, macht so viel Spaß wie eine Pansen-Verstimmung.»
Er blickte ihr kurz nach, aber sie war ihm anscheinend nicht so wichtig, dass er ihr auch nur eine Antwort auf ihre Beleidigung geben wollte. Stattdessen wandte er sich erneut zu mir und fragte: «Und was ist das Zweite, was ich tun soll?»
«Mir nie wieder zu nahe kommen!» Ich zitterte am ganzen Leib, während ich diese harschen Worte aussprach. Dann drehte ich mich um und lief aus dem Stall heraus, in den Regen, der gerade richtig lospladderte. Die anderen Kühe der Herde trabten mir entgegen, aber ich beachtete sie gar nicht. Mein Traum war zerstört. Champion war nicht meine Eintagsfliege. Mit ihm würde ich nie ein so glückliches Leben haben, wie Summ und Herum es geführt hatten.
Kaum hatte ich dies endgültig realisiert, konnte ich nicht mehr an mich halten: Ich heulte los und galoppierte, so schnell ich konnte, raus auf die Weide in der Hoffnung, dass mich niemand sehen würde. Die Tränen vermischten sich auf meiner Schnauze mit den Regentropfen, und ich wusste: Ich würde an gebrochenem Herzen eingehen, wenn ich nicht bald einen neuen Traum vom Glück fände.
Kapitel 2
Wir Kühe haben unfassbar große Tränendrüsen: Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon schluchzend am kleinen Bach am Rand unserer Weide lag. Die Regenwolken hatten sich wieder fast verzogen, und es nieselte lediglich, doch ich heulte immer noch. Da trat Hilde hinzu, eine meiner beiden besten Freundinnen, und fragte: «Gibt es einen speziellen Grund, warum du dir hier eine Erkältung holst, Lolle?»
«Ssssammmpionnn», heulte ich.
«Kannst du vielleicht etwas deutlicher heulen?» «Sssampion ... Sssusi ... Bessstieg'n.»
Hilde verstand nun und seufzte: «Männer, bei ihnen hast du nur zwei Möglichkeiten: Hasse sie, oder hasse sie.»
Meine Freundin besaß eine raue Schale, und unter der steckte ein ... nun ja ... harter Kern. Doch tief drin in diesem harten Kern war etwas Weiches, eine Sehnsucht nach Liebe und Nähe. Aber Hilde hätte lieber ihre Zunge in einen Häcksler gesteckt, als anderen - und vor allen Dingen sich selbst - diese Sehnsucht einzugestehen.
Sie war die einzige Kuh auf unserer Weide, die braune Flecken besaß. Von klein auf wurde sie daher von den anderen Kühen gemieden. Die Einzigen, die sich nicht für ihre Fleckenfarbe interessierten, waren meine andere beste Freundin Radieschen und ich. Mir war die Farbe einerlei, weil mich alles faszinierte, was irgendwie anders war, und Radieschen machte sie nichts aus, weil sie die liebste Kuh überhaupt war und ihr die Welt gar nicht bunt genug sein konnte.
Während meine Tränendrüsen und der Nieselregen allmählich versiegten, kam Radieschen angelaufen und plapperte aufgeregt: «Habt ihr gehört? Der Bauer ist vorhin nicht gekommen, weil er im Haus eingeschlafen ist. Wieder mal vor diesem flimmernden Fernsehkasten, in dem die kleinen Menschen wohnen, die immer mit ihm reden, ohne dass er ihnen antwortet, was nebenbei gesagt ganz schön unhöflich ist, und ... Sag mal, Lolle, du weinst ja ...»
«Sssampion ... Ssusii ...», erklärte ich.
«Oh nein, haben die es etwa miteinander gemacht?», fragte Radieschen erstaunt.
«Nein», antwortete Hilde spitz, «sie haben miteinander ‹Fang den Fladen› gespielt.»
«Echt?», fragte Radieschen. «Und warum ist Lolle dann so traurig?»
Obwohl Radieschens Fell nur wenige Flecken aufwies und daher fast ganz weiß war, zählte sie nicht zu den hellsten Kühen auf der Weide.
Hilde verdrehte die Augen: «Natürlich haben die beiden es miteinander gemacht.»
«Und warum sagst du dann, sie haben ‹Fang den Fladen› gespielt?» Radieschen war nun sehr irritiert.
Hilde schnaubte als Antwort leicht genervt durch.
Radieschen wandte sich mir zu und sagte lieb: «Es tut mir so leid für dich», dabei schlabberte sie mir tröstend mit ihrer Zunge über die Schnauze, was mich etwas beruhigte.
Hilde versuchte mich indessen auf ihre Weise zu trösten: «Wir haben doch immer gewusst, dass Champion ein Idiot ist.»
«Ja, aber er war mein Idiot», schnäuzte ich.
«Ach, Lolle», säuselte Radieschen sanft, «es gibt doch auch noch so viele andere Idioten.»
Radieschen konnte immer was Gutes an einer Situation finden. Sie sah halt stets den Trog halb voll, während Hilde ihn halb leer sah. Und Champion ihn ganz leer futterte.
Doch ich war nicht wie Radieschen. Um genau zu sein: Niemand war so wie sie. Und Hilde vertrat die feste Überzeugung, dass Radieschens positive Weltsicht im engen Zusammenhang stand mit der Tatsache, dass sie bei ihrer Geburt mit dem Kopf voran auf den Stallboden geplumpst war.
Doch hatte Radieschen vielleicht recht? Vielleicht musste ich gar nicht vor Trauer eingehen? Sollte dies mein neuer Traum von einem glücklichen Leben werden: Einen anderen Stier zu finden? Sollte ich mich einfach neu verlieben? Doch wie konnte das gehen? Wo mein Herz doch so sehr schmerzte? Und ich eigentlich nur Champion haben wollte? Ihn aber nie wieder unbefangen berühren könnte, geschweige denn, mich von ihm anfassen lassen konnte, nachdem ich ihn so mit Susi gesehen hatte.
«Kein Stier macht glücklich», widersprach Hilde. «Stiere sind ein Beweis dafür, dass unsere Gotteskuh Naia gar nicht existiert. Aber falls doch und sie die Stiere wirklich erschaffen hat, dann ist Naia recht merkwürdig. Und mit merkwürdig meine ich total bekloppt.»
Damit hatte Hilde durchaus recht, die anderen Stiere auf unserem Hof schienen noch weniger eine göttliche Schöpfung zu sein als Champion. Die Stiere in unserem Alter waren der Ansicht, dass man für das Liebemachen nicht unbedingt Gefühle benötigte, was sie in meinen Augen nicht wirklich attraktiv machte. Außer ihnen gab es noch den greisen Kuno, den der Bauer immer nur «die zukünftige Ochsenschwanzsuppe» nannte, ohne dass ich genau wusste, was das bedeutete. Es klang aber ähnlich unerfreulich wie «Big Mac», «T-Bone Steak» oder «Ledersandale». Und zu guter Letzt hatten wir auf der Weide noch den Stier Onkel, dessen Verdauung nicht die beste war. Wenn Pups-Onkel blähte, verendete schon mal ein Fliegenschwarm. Oder ein Eichhörnchen.
Radieschen schlug aufmunternd vor: «Du könntest ja warten, bis ein neuer, richtig guter Stier geboren wird.»
«Klar», konterte Hilde, «und wenn der dann ausgewachsen ist, verliebt er sich ausgerechnet in eine ältere Kuh.»
«Ja, warum denn nicht?», wollte Radieschen wissen.
«Weil Jungstiere nicht soooo sehr darauf stehen, wenn eine Kuh faltig ist, sie anfängt zu müffeln und der Euter so hängt, dass er beim Gehen über den Boden schleift.»
Bei dieser Vorstellung vom Alter wollte ich am liebsten gleich wieder losheulen.
Und ganz bestimmt nicht alt werden.
Radieschen erkannte, dass ich den Tränen nah war, und schlabberte mir erneut mit der Zunge über die Schnauze: «Dir wird es schon bald besser gehen, das verspreche ich dir, Lolle.»
«Ja», bestätigte Hilde, «wenn sie endlich begreift, dass sie keinen Stier zum Glück braucht.»
War das der Weg? Alleine ein glückliches Leben zu leben? Ohne von einem Mann geliebt zu werden?
Radieschen fragte sie: «Bist du denn glücklich alleine?»
«Klar», antwortete Hilde in einem etwas zu bestimmten Tonfall, der verriet, dass das «klar» nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Wenn selbst die starke Hilde es nicht schaffte, alleine glücklich zu sein, wie sollte ich dann ohne einen Stier mein Glück finden? Bevor ich mit Champion zusammenkam, war mir dieses Leben, das nur aus Grasen und Verdauen bestand, doch schon viel zu wenig.
Ich betete in Gedanken zu Naia, dass sie mir ein Zeichen geben solle. Kaum hatte ich mit dem Gebet angefangen, schrie jemand «Attenzione!».
Ich sah, wie ein brauner Kater auf uns zulief, nein zu-humpelte, geradezu zustürzte. Sein Bein blutete, Panik lag in seinen Augen. Er war ein gehetztes Tier. Auf der Flucht vor irgendwas. Oder vor irgendjemand. In jedem Fall vor etwas ganz, ganz Schrecklichem.
Wenn dies das Zeichen der Gotteskuh war, dann war sie nicht nur merkwürdig oder gar bekloppt, sondern auch noch wenig zimperlich.
Kapitel 3
Der Kater stürzte vor uns in den Bach. Er tauchte auf, gurgelte und versuchte, sich über Wasser zu halten, aber mit seinem zerfetzten Bein war dies schier unmöglich.
Als Erste fand Hilde die Worte wieder: «Ich hab den noch nie hier gesehen. Woher kommt der?»
«Vielleicht», mutmaßte Radieschen, «von den Bäumen am Ende der Welt, wo die Kuh des Wahnsinns wohnt?»
«Es gibt keine Kuh des Wahnsinns», widersprach Hilde, «das sind nur Märchen, die Mütter ihren Kälbern erzählen.»
«Sind es nicht!»
«Radieschen, du bist naiver als die Hühner, die nicht begreifen, dass die Eier, die ihnen weggenommen werden, ihre Kinder sind.»
«Vielleicht begreifen sie das doch», entgegnete Radieschen, «und die Hühner sind einfach nur nicht so kinderlieb.»
«Die Hühner sind doch im Augenblick völlig egal», erklärte ich, «wir müssen den Kater da rausholen!»
Entschlossen stapfte ich in das kalte Wasser des Bachs, das mir bis zu den Knien ging. Bevor ich den Kater jedoch mit meiner Schnauze packen konnte, ging der wieder gurgelnd unter, mit Todesangst in seinen Augen. Schnell steckte ich meinen Kopf ins Wasser und sah, wie der Kater mit seinen drei gesunden Beinen wild um sein Leben strampelte, während die Luftblasen nur so aus seinem Mund blubberten. Doch all sein Strampeln war vergeblich: Er sank zu Boden, auf die Steine.
Ich tauchte meine Schnauze tiefer unter und erkannte, dass die Augen des Katers sich bereits schlossen und die allerletzten feinen kleinen Luftblasen seinen Mund verließen. Hastig biss ich in sein nasses Fell und hob ihn aus dem Wasser. Während ich aus dem Bach stapfte und der Kater an meiner Schnauze baumelte, spuckte er Wasser und japste nach Luft. Als er endlich wieder atmen konnte, stammelte er: «Signorina, ich danke Ihne von die ganze Herze.»
«Irgendwie redet der komisch», murmelte Radieschen. Hilde vermutete: «Vielleicht hat sein Hirn zu wenig Luft bekommen.»
«Ich komme aus bella Italia», erklärte der Kater. «Was soll das denn sein?», fragte Hilde.
«Meine Großtante hieß Bella», meinte Radieschen, «aber der kommt bestimmt nicht aus der.»