Neue Billigdroge "Krokodil"
Der Stoff, der Junkies verfaulen lässt
Aus Werchnjaja Pyschma berichtet
Benjamin Bidder
Dmitrij Beljakow
"Krokodil" heißt die Droge der Armen und Verwahrlosten in Russland. Der Stoff wird aus Hustentabletten gewonnen und sorgt für kurze Euphorieschübe, doch die Schäden sind enorm. Die Junkies verwesen regelrecht, ihre Lebenserwartung sinkt drastisch - doch die Pharmalobby wehrt sich gegen Verbote.
Wenn Airat und seine Freundin Swetlana mit dem Kochen beginnen, füllt beißender Gestank das Treppenhaus des Plattenbaus, in dem sie wohnen, und die Nachbarn rufen die Polizei. Airat, ein 28-Jähriger aus dem russischen Industriestädtchen Werchnjaja Pyschma im Ural, lehnt sich an die Wand im Flur seiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Seine Augen sind glasig, es stinkt nach Benzin. Airat trägt ein Tattoo auf dem linken Oberarm. "Ich lebe sündig", steht darauf. Vor allem aber lebt er gefährlich.
In der Küche liegen leere Medikamentenpackungen verstreut, Plastikspritzen und Ampullen zwischen rostigen Pfannen. Eben noch haben Airat und die blonde Swetlana, 25, Hustentabletten aus der Apotheke und die Köpfe von Zündhölzern zerbröselt. Dann kochten sie das Pulver mit Benzin und Ameisensäure auf, nur um sich die trübe braune Brühe kurz darauf in die Venen zu spritzen. Sie nennen es "das Krokodil". So heißt die neue synthetische Droge, die sich durch Russlands Regionen frisst und Drogenfahndern und Regierung Sorgen bereitet. "Krokodil", das wissenschaftlich als Desomorphin bezeichnet wird, ist billig, einfach herzustellen und zerstörerisch. Der Stoff wirkt ähnlich euphorisierend wie Heroin, ist aber viel günstiger. Die Junkies gewinnen ihn aus Hustentabletten. 100 Rubel, umgerechnet 2,50 Euro, haben Airat und Swetlana für die Zutaten ihres Schusses bezahlt.
Das Fleisch der Junkies hängt in Fetzen
Die primitive Zubereitung birgt Gesundheitsgefahren. Analysen der russischen Antidrogen-Behörde FSKN zeigen, dass die braune Suppe Schadstoffe enthält: Knochen zerstörendes Phosphor etwa und Schwermetalle wie Blei, Zink und Antimon-Oxid. Der Dreck in der Droge lässt die Junkies langsam verfaulen.
Laut russischen Ärzten beträgt die Lebenserwartung von "Krokodil"-Abhängigen ein bis drei Jahre. Bei fortdauerndem Konsum werden Finger und Zehen nekrotisch, sagen sie, und an den Einstichstellen bilden sich Geschwüre, die kaum heilen. Um potentielle "Krokodil"-Konsumenten abzuschrecken, verbreiten Russlands Drogenbekämpfer Schockfotos von Junkies, denen Eiter aus klaffenden Wunden fließt und deren Fleisch in Fetzen hängt.
Die Haut um Airats Fingernägel hat sich schwarz verfärbt, und seine Beine sind übersät mit faulig-braunen Flecken, die an die gemusterte Haut eines Reptils erinnern. Deshalb der Name "Krokodil". Im Wohnzimmer der Wohnung in Werchnjaja Pyschma hockt Airats Vater Albert, 50, auf einem speckigen Sofa. Er hat in der Wirtschaftskrise seinen Job als Wachmann verloren. Jetzt aber bekommt er noch nicht einmal mehr mit, wie sein Sohn nebenan sein Leben ruiniert.
"Mir ist egal, was Airat macht. Er hört ja doch nicht auf mich", nuschelt Albert. Dann säuft er weiter. "Jede Droge findet die zu ihr passende Geldbörse", sagen sie in Werchnjaja Pyschma, und Desomorphin ist die Droge der Armen und Verwahrlosten. Zehn Jahre lang haben Airat und Swetlana Heroin gespritzt. Jetzt reicht das Geld nicht mehr für die teure Droge, die pro Gramm 1000 Rubel kostet, umgerechnet 25 Euro, sondern nur noch für den Gang in die nächste Apotheke.
Niemand weiß, wer die Billigdroge entdeckt hat
Dort gibt es Präparate wie Kodelak, Pentalgin oder Terpinkod noch immer rezeptfrei, obwohl bekannt ist, dass Abhängige im ganzen Land daraus "Krokodil" kochen. Für ihre Hersteller sind die Medikamente zu sogenannten Cash Cows avanciert, zu Verkaufsschlagern, die den Gewinn in die Höhe treiben. So schwärmte etwa das russische Pharmaunternehmen Farmstandart ganz offen, dass es vor allem seine billigen Kodein-Präparate sind, die maßgeblich zu dem 37-prozentigen Plus bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten beigetragen hätten.
Russland, das in den vergangenen Jahren schon von einer Heroin-Schwemme aus Afghanistan überrollt wurde, kämpft mit einer neuen Generation von Billigdrogen aus der Apotheke.
Tscheljabinsk, eine Millionenstadt an Russlands Grenze zu Kasachstan. In der Abenddämmerung macht sich Andrej, 29, glatzköpfiger Zivilfahnder der Drogenkontrolle bereit für seinen Streifendienst.
2009 haben er und seine Kollegen die ersten "Krokodilschiki" in Tscheljabinsk aufgegriffen, Abhängige auf Desomorphin. Inzwischen sind es Hunderte. Niemand weiß, wer die Billigdroge entdeckt hat. "Wahrscheinlich war es irgendein Sascha auf Heroin, der es zufällig ausprobiert hat. Jetzt machen das alle", sagt Andrej. Er patrouilliert am Einkaufszentrum Teplotech.
Das Tscheljabinsker Viertel ist berüchtigt: Hier treffen sich Junkies und Dealer, die als Zwischenhändler Medikamente in Apotheken besorgen und sie weiterverkaufen. Es stinkt nach Pisse. Butarphanol hieß hier bis vor kurzem der Verkaufsschlager, ein Migräne-Mittel, das in der Szene auch bekannt ist als "der kleine Bruder des Heroins", aber dessen Verkauf wurde vor kurzem eingeschränkt. Jetzt liegen orangefarbene Papp-Verpackungen neben den Plastikspritzen unter den Büschen am Teplotech-Zentrum, Tropicamid steht darauf.
"Eigentlich sind das Augentropfen", sagt Fahnder Andrej. Direkt in die Vene gespritzt aber machen sie kurzfristig high, langfristig aber krank: Erst plagt die Junkies trockene Haut, später dann Suizidgedanken. Der Verkauf von kodeinhaltigen Medikamenten sollte in Russland eigentlich schon Mitte des Jahres eingeschränkt werden, doch der Plan stieß auf erbitterten Widerstand von Ärzten und der Pharmalobby. Pentalgin soll erst ab Juni 2012 rezeptpflichtig werden.
Für Airat und seine Freundin könnte das zu spät sein. Swetlana zuckt lethargisch mit den Schultern. "Ich werde sterben", sagt sie. "So oder so".
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