Wie junge Albaner in Mazedonien sich selber und ihre Zukunft sehen
Acht Jahre nach dem Abkommen von Ohrid sind viele junge Albaner skeptisch hinsichtlich der Zukunft eines multiethnischen Mazedonien. Sie kompensieren ihre Ablehnung gegenüber der Politik durch Engagement in albanischen Bewegungen.
Acht Jahre sind vergangen, seit das Ohrider Rahmenabkommen im August 2001 den Konflikt zwischen einer ethnisch-albanischen Guerilla und der mazedonischen Staatsmacht beendete. «Ohrid», zu Recht als Erfolg euro-atlantischer Krisendiplomatie gefeiert, sollte die Beziehungen zwischen Mazedoniern und Albanern (rund 25 Prozent der Bevölkerung) auf eine neue Stufe stellen. Mazedonien sollte ein Einheitsstaat bleiben, aber durch ausgebaute Minderheitenrechte und eine Stärkung der Gemeindeautonomie die Albaner besser ins Staatswesen integrieren. Ist das gelungen? Wie sieht das Verhältnis junger, gut ausgebildeter Albaner zum mazedonischen Staat heute aus? Und wie steht es um ihre Beziehungen zu den Albanern jenseits der Grenze, in Kosovo und in Albanien?
Fehlende Visionen
Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus: Skepsis und Frustration in Bezug auf den multiethnischen Staat; Optimismus und Interesse, wenn es um die grenzübergreifenden albanischen Verbindungen geht. Veton Latifi, ein junger Professor für Politologie, fürchtet, dass der Aufbau eines multiethnischen Staatswesens steckengeblieben sei. «Viele Albanerinnen und Albaner sind verunsichert. Sie fühlen sich von den Mazedoniern übervorteilt und von ihren Parteien im Stich gelassen. Es fehlen Visionen, wie wir in Zukunft in diesem Land leben sollen.»
Noch immer fehle ein akzeptables Gesetz, das den Gebrauch des Albanischen regle. Die Albaner seien in der Verwaltung unterrepräsentiert, und die Aufwertung der Gemeindeautonomie stehe nur auf dem Papier. Hat sich das Klima zwischen den Volksgruppen verschlechtert? Während ein alter Ofenbauer in Skopjes Carsija, dem Basar, davon nichts wissen will – «nur die Politiker zündeln, das Volk will Friede» –, sehen das Studenten und Aktivisten aus Nichtregierungsorganisationen anders: «Seit dem Konflikt im Jahr 2001 war die Frustration unter jungen Albanern nie grösser», sagt Bujar Luma, der eine Galerie und ein Kino in Tetovo leitet. «Ohrid» sei für viele ein leeres Versprechen.
Unerfüllte Hoffnungen
Die Umsetzung des Abkommens wird von einem Sondergesandten der EU-Kommission in Skopje beobachtet. Eine Mitarbeiterin der Mission weist die albanische Kritik als überzogen zurück. Es bestehe die Tendenz, für alle Probleme den Staat oder die andere Volksgruppe verantwortlich zu machen. Viele Albaner übersähen, dass der schwache Staat auch den mazedonischstämmigen Bürgern wenig zu bieten habe. Aber, so räumt die Mitarbeiterin der Europäischen Union ein, es bestünden Defizite bei der Umsetzung von «Ohrid». Ein Problem sei, dass die Vertretung der Minderheiten im Staatsapparat schwer zu messen sei, weil die Statistiken miserabel geführt würden. Sorgen bereite ihr auch die schleppende Reform des Erziehungswesens – und der Trend zur ethnischen Segregation auf allen Schulstufen.
Schliesslich kommt die Diskussion auf den entscheidenden Punkt. Die Hoffnung, dass der Ohrider Vertrag zu einem neuen multiethnischen Staatsverständnis führen würde, hat sich nicht erfüllt. Der «Geist von Ohrid», den nur noch ausländische Besucher beschwören, steckt fest in der Flasche. Als bedürfte dies einer Illustration, machte im August die Nachricht die Runde, dass das Original des Abkommens spurlos verschwunden sei. Schlamperei? Sabotage? Niemand wunderte sich, als wenig später weder der Staatspräsident noch der Ministerpräsident, beides ethnische Mazedonier, an der offiziellen Jubiläumsfeier des Abkommens teilnahmen. Die Mazedonier haben zum Ohrider Abkommen zumindest eine zwiespältige Einstellung. Sie sehen darin eine durch Waffengewalt erzwungene Besserstellung der Albaner auf Kosten des mazedonischen Charakters des Staates. Anders als die Albaner, so argumentieren sie, hätten die 1,3 Millionen Mazedonier nur diesen einen Staat, der ihre Identität vor albanischen und griechischen Anmassungen sowie bulgarischen und serbischen Vereinnahmungen schütze.
Unterschiedliche Identitäten
Verschärft wird diese Grundspannung zwischen Mazedoniern und Albanern durch die gegenläufigen «Identitätserfahrungen» der beiden Volksgruppen. Während das albanische Nationalbewusstsein durch den Kosovokrieg, das Ohrider Abkommen, den Nato-Beitritt Albaniens und erst recht durch Kosovos Unabhängigkeitserklärung gestärkt wurde, ist das mazedonische «Wir-Gefühl» an verschiedenen Fronten in Frage gestellt. Am folgenreichsten in der Auseinandersetzung mit Griechenland: Athen sieht in der Verwendung der Staatsbezeichnung Mazedonien irredentistische Ansprüche Skopjes gegenüber der gleichnamigen griechischen Provinz. Im Frühjahr 2008 blockierte es Skopjes Beitritt zur Nato und will auch alle weiteren Schritte zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union verhindern, sofern Mazedonien an seinem verfassungsmässigen Namen festhält.
Dies führt zu Trotzreaktionen in der mazedonischsprachigen Öffentlichkeit: Um Alexander den Grossen wird ein befremdlicher Kult betrieben, in dem dieser zum Ahnherrn der modernen mazedonischen Nation stilisiert wird. Diese «Antikisierung» der nationalen Identität verschärft den Konflikt mit Griechenland – und verärgert die Albaner in Mazedonien, denen am Landesnamen wenig, an einem schnellen Nato- und EU-Beitritt aber viel liegt. «Wir sind in der unglücklichen Lage, mit einer Nation in einem Land zusammenzuleben, die ein Identitätsproblem hat», sagt der albanischstämmige Publizist Kim Mehmeti. «Wir Albaner haben mit unserer Identität kein Problem.»
Ruf nach neuer Elite
So stolz junge Albaner in Mazedonien auf ihre ethnische Herkunft sind, so kritisch sind sie, wenn die Sprache auf ihre politische Vertretung kommt. Artan Grubi, der Präsident der albanischen Bürgerrechtsbewegung «Zgjohu!» (Wach auf!), formuliert es anschaulich: «Die Partei ist die Mutter, der Vater und der Arbeitgeber. Sie sorgt für dich und will dafür Gehorsam.» Tatsächlich funktionieren die Parteien als Hüter des Tors zu politischer Macht und zu geschäftlichem Erfolg. Es sind Klientelsysteme, die Gefolgschaft mit Zugang zu Ressourcen vergüten. Sozialer Aufstieg an den Parteien vorbei ist kaum möglich. Weil nur jene Parteien, die in der Regierung sitzen, auf Dauer Ressourcen gegen Gefolgschaft tauschen können, sind die Wahlen oft von Betrug und Gewalttaten überschattet.
Kommt eine Partei einmal an die Schalthebel der Macht, wird das Verwaltungspersonal vom Abteilungsdirektor bis zum Fahrer ausgewechselt – die Klientel muss ernährt werden. Dieses System verhindert die Ausbildung einer professionellen «unpolitischen» Beamtenschaft, die dem Gesetz und den Bürgern verpflichtet ist. Agon Ferati, der Präsident der Studentengewerkschaft an der Südosteuropäischen Universität in Tetovo, zieht daraus einen radikalen Schluss: «Wir brauchen eine neue politische Elite. Und zwar eine politische Aristokratie, die nicht kurzfristigen Gewinn, sondern langfristige Ziele im Auge hat.» Gehört der multiethnische Staat zu diesen Zielen? Eigentlich ja, sagt Ferati. Das Leben auf dem Campus beweise, dass multiethnische Zusammenarbeit möglich sei. Dass die gegenwärtige politische Elite dazu fähig oder auch nur willens sei, daran zweifelt er.
Der regionale Kontext gibt derzeit den Skeptikern gegenüber dem multiethnischen Staat die Argumente in die Hand. Bosnien-Herzegowina befindet sich seit Jahren in einer politischen Dauerkrise. Bosnjaken (Muslime), Serben und Kroaten haben sich so tief in ihre ethno-politischen Gräben zurückgezogen, dass selbst kleine Reformschritte unmöglich sind. Ein übergreifendes Staatsverständnis ist nirgendwo in Sicht. In Kosovo, im Ahtisaari-Plan als ein multiethnisches Staatsgebilde definiert, leben Albaner und Serben faktisch in Parallelwelten, die sich nur in den Büros der internationalen Organisationen und in der kriminellen Unterwelt überschneiden. Den multiethnischen Staaten Mazedonien, Bosnien und Kosovo ist gemeinsam, dass ihre Verfassungen massgeblich von westlichen Experten entworfen wurden – es sind Versuche, ethnische Konflikte durch Demokratie und Rechtsstaat zu «zivilisieren».
Diskreditierte Politiker
Der Erfolg dieser Experimente ist ungewiss. Viele Politiker pflegen einen zynischen Umgang mit dem multiethnischen politischen System. Je nach Bedarf und Publikum wird von Minderheitenrechten gesprochen oder der nationale Aufbruch propagiert. Diese Wetterwendischkeit, gepaart mit Korruption und mageren Staatsleistungen, hat die politische Klasse vielerorts diskreditiert. In den albanischen Siedlungsgebieten in Mazedonien und Kosovo sind Organisationen und Bewegungen entstanden, die nicht nur diese Politiker kritisieren, sondern auch die Staatssysteme in Frage stellen, in denen diese wirken. Damit kommt die nationale Frage wieder aufs Tapet. Wenn es uns Albanern in Mazedonien, Kosovo und Südserbien im multiethnischen Arrangement nicht behagt, weshalb nicht über neue Arrangements nachdenken?
Im August 2008 gründeten drei albanische Bewegungen aus Albanien, Kosovo und Mazedonien das Netzwerk Rrosh (Rrjetin e Organizatave Shqiptare). «Mjaft!» (Genug!) aus Tirana, «Vetevendosje» (Selbstbestimmung) aus Pristina und «Zgjohu!» aus Skopje sind die führenden Mitglieder. Dazu kommen kleinere Gruppen aus den albanischen Siedlungsgebieten Südserbiens, Montenegros und Griechenlands. Abwechselnd trifft man sich seither in Tirana, Pristina und Skopje. Auf der Tagesordnung stehen aktuelle Probleme in den jeweiligen Gebieten, aber auch gemeinsame Aktionen.
Sich besser kennenlernen
So organisierte Rrosh symbolträchtig die diesjährigen Jubiläumsfeiern für die «Liga von Prizren». Die Liga steht im albanischen Geschichtsdiskurs für den Anfang des nationalen Erwachens. Es gehe darum, sich wieder besser kennenzulernen, nachdem die Grossmächte die von Albanern bewohnten Gebiete im Jahr 1912 durch vielerlei Grenzen getrennt hätten, sagt das Gründungsmitglied Artan Grubi. Bei «Vetevendosje» in Pristina formuliert man etwas deutlicher: Durch gemeinsame Aktionen mit nationalem Charakter solle das politische und kulturelle Bewusstsein der Albaner geschärft werden. An ihrem jüngsten Treffen in Skopje forderten die Rrosh-Aktivisten, dass alle Albaner ausserhalb des Mutterlandes zu albanischen Doppelbürgern gemacht würden.
Sind das Bestrebungen zur Errichtung von Grossalbanien, wie mazedonische und serbische Kommentare vermuten? Eine eindeutige Antwort erhält man von den Rrosh-Aktivisten nicht. Wohl nicht nur deshalb, weil das Thema im Westen als Tabu gilt. Über die mögliche Gestalt eines «ethnischen Albanien» und den Weg dorthin gibt es vorläufig keinen Konsens: Vereinigung aller Albaner in einem Staat, eine Konföderation Albanien-Kosovo oder bloss ein gemeinsam gepflegter Kulturraum?
«Albanosphäre» ist Tatsache
Zweifellos gibt es in den von Albanern bewohnten Gebieten regionale Identitäten, die stark vom Status als Mehrheit (in Albanien und Kosovo) oder als Minderheit (in Mazedonien und Südserbien) geprägt sind. Aber es ist offensichtlich, dass seit dem Kosovokrieg 1999 die Kontakte zwischen den albanischen Gebieten in allen Lebensbereichen sprunghaft zugenommen haben. Intellektuelle, politische und wirtschaftliche Kontakte werden zu einem immer dichteren Netz geknüpft, das manche Beobachter die «Albanosphäre» nennen. Den jungen Gesprächspartnern ist klar: In Tirana finden die wichtigen kulturellen Diskussionen statt, in Pristina die wilden Partys, und in Skopje lässt es sich trefflich über die Lage als Minderheit diskutieren.
Für junge Albaner sind diese Begegnungen meist problemloser und interessanter als der mühsame Austausch mit mazedonisch- oder serbischsprachigen Altersgenossen. Zwar ist die Existenz einer «Albanosphäre» eine Tatsache. Wohin sie sich entwickelt, hängt indessen vom politischen Kontext ab: vom Ausgang der multiethnischen staatlichen Experimente in Mazedonien, Kosovo und Bosnien und vom Tempo der EU-Integration dieser Länder. Noch am besten stehen die Chancen für einen funktionierenden multiethnischen Staat in Mazedonien, wo kein blutiger Bürgerkrieg zur Neuordnung der Verhältnisse führte. Aber auch hier dominiert die ethnische Identifikation das schwach ausgebildete staatsbürgerliche Bewusstsein. Vielleicht noch wichtiger für die künftige Gestalt der «Albanosphäre» ist der Zeithorizont, in dem die betroffenen Länder in die Europäische Union aufgenommen werden. Innerhalb der EU, welche die Grenzen ihrer Mitgliedstaaten zugleich relativiert und schützt, könnten eine dynamische «Albanosphäre» und die bestehenden Staatsgrenzen wohl koexistieren – ausserhalb kaum.
Der Geist des Abkommens von Ohrid steckt in der Flasche (International, NZZ Online)