Brief aus Istanbul: Die größte Sünde in der Türkei ist das Schreiben
Es ist nicht immer einfach zu verstehen, in welcher Situation sich ein fremdes Land gerade befindet. Selbst wenn Sie etliche Bücher über dieses Land lesen und stundenlang Dokumentarfilme anschauen, dürfte es kaum möglich sein, die Lage ganz zu erfassen. Andererseits kommt es vor, dass eine einzige Meldung Ihnen gewissermaßen ein Resümee des Landes liefert.
So finden sich in einem Drama, das sich vor zwei Wochen in einer Kleinstadt an der Ägäis abspielte, all die Probleme gebündelt, mit denen wir uns in den letzten Jahren herumschlagen. Vor allem die Armut. Als ihr Mann wegen Delikten wie Diebstahl, Körperverletzung und Drogenhandel ins Gefängnis kam, fing die 27-jährige Melisa Akcan an, Altwaren zu sammeln, um ihre fünf Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren durchzubringen. Am Abend des 12. Novembers ging sie aus dem Haus, um das Geld für ihre Altwarenverkäufe abzuholen, damit sie Essen heimbringen könnte. In ihrer Abwesenheit kippte der kleine Heizlüfter, die einzige Möglichkeit, die Unterkunft warm zu bekommen, um und geriet in Brand. Die zusammengeschusterte Baracke fing Feuer, die fünf kleinen Geschwister kamen darin um. Wäre unser Staat ein Sozialstaat, wäre gar nicht zugelassen worden, dass die Mutter mit fünf Kindern in einer solchen Unterkunft wohnt. Der Staat hätte sich der Kinder angenommen, die Mutter wäre mit einer auskömmlichen Sozialhilfe über die Runden gekommen. Doch so war es nicht. Weil die junge Mutter mit den umgerechnet rund 115 Euro, die sie monatlich vom Staat erhielt, kaum die Stromrechnung begleichen konnte, musste sie ihre kleinen Kinder allein zu Hause lassen, um arbeiten zu gehen. Die Folgen kennen Sie.
Wohlstand gibt es nur für die Getreuen
Das Drama hat eine Reihe von Gründen, aber nur einen Verursacher: Erdoğan. In den 22 Jahren seiner Regierung hat er die Einkommensverteilung verschoben und den Zugang zu Wohlstand an politische Treue gebunden. Ein armes Land ist die Türkei eigentlich nicht. Das Problem besteht darin, dass nur die Regierung und ihre Anhänger vom Reichtum profitieren können. Gelingt es jemandem, diese Situation umzukehren, könnte diese Person Erdoğan Palast und Parlament abnehmen.