Brief aus Istanbul:
Erdoğan: „Die Türkei ist größer als die Türkei“
Im Inland sieht es für Erdoğan schlecht aus. Im Ausland trumpft er auf. Er hat die Islamisten gefördert, die Assad stürzten. Und nun wird er gleich imperial.
Jahrelang rühmte sich die Türkei ihrer jungen Bevölkerung, jetzt aber ist das Bevölkerungswachstum auf einen historischen Tiefstand gesunken. Vor sieben Jahren betrug es noch 2,11 Kinder pro Frau, heute dagegen, trotz Erdoğans Appell, mindestens drei Kinder zu bekommen, nur noch 1,51. Familien, deren Auskommen zusehends schrumpft, halten sich beim Kinderkriegen zurück, um bloß keinen weiteren Teller auf den Tisch stellen zu müssen. Die Krise wirkt sich nicht allein auf die Geburtenrate aus. Sie nimmt vielen die Lust, überhaupt eine Familie zu gründen. Die steigenden Lebenshaltungskosten führten dazu, dass weniger Ehen geschlossen werden. Die Scheidungsrate hat sich nahezu verdoppelt. Die Antwort eines Studenten auf die Frage, was er von 2025 erwarte, bei einer Straßenumfrage, ist nachgerade tragisch: „Hauptsache, ich sterbe nicht.“
Was veranlasst einen Studenten zu solch einer Aussage? Spüren wir den Ursachen in den Wirtschaftsdaten nach. Wohnungsmieten stiegen 2024 um 52 Prozent. Die Preise für Möbel haben sich in den letzten fünf Jahren um 555 Prozent verteuert, für große und kleine Haushaltsgeräte gar um 615 Prozent. Für junge Leute ist aus ökonomischen Gründen bereits die Fortsetzung ihres Studiums schwierig geworden, geschweige denn die Gründung einer Familie. Innerhalb der letzten fünf Jahre brachen rund 325.000 Studenten ihr Studium ab, um stattdessen zum Familieneinkommen beizutragen.
Doch wer sich für Arbeit statt Studium entscheidet, ist zum Mindestlohn von rund 600 Euro verdammt – wie mindestens die Hälfte aller Erwerbstätigen im Land. 90 Prozent der Erwerbstätigen in der Türkei verdienen unter 1200 Euro im Monat. Diese Situation führt dazu, dass sich die Armut im Land weiter ausbreitet. Rund 40 Prozent der Menschen können sich rotes oder weißes Fleisch oder Fisch nicht einmal mehr jeden zweiten Tag leisten. 15 Prozent können ihre Heizkosten nicht mehr aufbringen. 12 Prozent waren im letzten Monat außerstande, ihre Miete zu zahlen. 60 Prozent können abgenutztes Mobiliar nicht ersetzen, 31 Prozent nicht einmal ein undichtes Dach reparieren lassen. Und eine Woche Urlaub im Jahr bleibt für 58 Prozent unerschwinglich.
Im Inland sieht es für Erdoğan schlecht aus. Im Ausland trumpft er auf. Er hat die Islamisten gefördert, die Assad stürzten. Und nun wird er gleich imperial.
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