Unter der Führung von Dragutin Dimitrijević, genannt Apis (der Stier), hatte sich in Kreisen des Militärs ein Staat im Staat gebildet. Diese wachsende Gruppe, die im Kern auf die Verschwörer des Königsmords von 1903 zurückging, hatte 1914 beträchtliche Teile der Sicherheitskräfte, gerade auch der Grenztruppen, infiltriert. Apis war auch einer der Gründer von „Vereinigung oder Tod“, vulgo „Schwarze Hand“. Pašić konnte sich – obwohl es das verbindende Element der erbitterten Gegnerschaft zu Österreich gab – auf diese Kreise nicht nur nicht verlassen, es bestand sogar die Gefahr, dass man ihn aus dem Weg räumen könnte. Dies hatte der Premier, der seinen Aufstieg ja Apis und der Verschwörung von 1903 zu verdanken hatte, 1914 bei jedem Schritt zu bedenken. Also wartete er ab und lavierte.
Lange stritten Historiker darüber, doch heute scheint klar: Pašić wusste von den Anschlagsplänen auf Franz Ferdinand. Er gab sogar Befehl, die serbisch-bosnische Grenze zu sperren, allerdings viel zu spät (die Attentäter waren längst eingesickert), und auf die Grenzwache war ohnehin kein Verlass. Pašić ließ zudem, wie Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ überzeugend darstellt, Wien eine Warnung zukommen. Doch diese Warnung des serbischen Gesandten Jovan Jovanović an den österreichisch-ungarischen Finanzminister Leon Biliński war so lauwarm, dass sie nicht ernst genommen oder gar als Finte eingestuft wurde. Nachher durfte es diese Warnung freilich gar nicht gegeben haben, für beide Seiten: Pašić wäre völlig diskreditiert gewesen, und Wien hätte eine dramatische Fehleinschätzung zugeben müssen.
Gegen Apis vorzugehen wagte der Premier zunächst nicht. Er blieb als Chef des Militärgeheimdienstes unangetastet. Erst 1917 wendete sich das Blatt: Der Premier ließ seinem Widersacher, der Serbien in einen Krieg gestürzt hatte, den Pašić – noch – nicht wollte, wegen Hochverrats den Prozess machen und hinrichten.
Nikola Pašić prägte die serbische Politik jahrzehntelang. Ein Krieg gegen Österreich- Ungarn schien ihm unausweichlich. Aber er wollte ihn nicht schon 1914.
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