In ihrem Tagebuch aber wundert sie sich über deren kindliche Naivität. Einige Kommandeure beeindrucken sie durch ihre Besonnenheit. Andere fällen Entscheidungen, die viele Menschenleben kosten. Ein Sturm auf eine türkische Stellung wird befohlen, der nicht die geringste Aussicht auf Erfolg hat, die Folgen sind katastrophal: Die Hälfte der Frauen stirbt. Dass die Kommandantin, die die Aktion angeordnet hat, unfähig und leichtfertig ist, wissen auch die Führer der PKK. Dennoch bekommt sie wieder neue Kämpferinnen zugeteilt. Die Bewegung will ohne hierarchische Strukturen auskommen, aber ihre Führungskräfte haben Privilegien. Für einen Mann aus der Zentrale und seine Sicherheitsleute räumen die Frauen ihre Höhlen und geben ihr Brot für die Gäste. Sie selbst schlafen in feuchten Nylonzelten und hungern. Imke Anders schreibt das alles in ihr Tagebuch. Im Rückblick jedoch versucht sie, ihre Kritik zu relativieren. Sie spricht von "Notwendigkeiten", von "ideologischen Defiziten" und "erklärbaren Widersprüchen". Es scheint, als wolle sie aus Phrasen und Parolen einen Wall um sich bauen, mit dem sie sich vor der Einsicht schützen will, dass Theorie und Realität auch bei der PKK nicht zusammengehen. An einem Abend aber, in den ersten Wochen ihres Einsatzes, werden ihre Zweifel übermächtig. Sie sitzt mit Kopfschmerzen und geschwächt von einer akuten Blasenentzündung am Feuer und notiert: "Vielleicht werden wir nach längerer Zeit hier in den Bergen erfahren müssen, dass sich der ganze Krieg, die ganze Guerilla als eine Verkettung falscher Beziehungen, Racheaktionen, überstürzter Beweise vergeblichen Heldenmuts, von Irrtümern und mangelhafter Leitung erweist." Vier Monate später lässt sie der PKK-Führung ihren Wunsch nach Rückkehr übermitteln. Doch die türkische Armee hat eine Offensive begonnen, der Weg über die Grenze in ein Transitland ist versperrt. Imke Anders muss bleiben. Sie lernt allmählich Kurdisch, die Leiden betäuben ihr nicht mehr ständig die Sinne. Sie genießt jetzt auch die sternklaren Nächte und den Blick von den Bergen weit ins Land. Sie freut sich über die ersten wilden Narzissen nach dem Winter. Mit einem Kurden, der Russisch kann, führt sie nach Monaten erste, lange Gespräche - über Landwirtschaft, Rinderwahnsinn, Dollarkurs. Aber auf der anderen Seite sind da auch immer wieder die endlosen Streitigkeiten, wer Küchendienst hat oder wo Holz gesammelt wird. Sie ist schockiert über ihre vermeintlich so selbstbewussten Kämpferinnen: "Sobald ein Schnurrbart auftaucht" wetteifern sie um die Gunst des Mannes und verwandeln sich in untertänige Wesen. Imke ärgert sich auch über die männlichen Genossen. Die meist gut ausgeruhten PKK-Funktionäre von der Zentrale referieren vor den todmüden Frauen und überbringen die neuesten Anweisungen von Öcalan. "Er wird wie ein Übervater, wie Gott verehrt", mokiert sich Imke Anders in ihrem Tagebuch. Nach fast zwei Jahren Aufenthalt in Kurdistan begegnet sie ihm selbst. Öcalan redet. Sieben Stunden lang. Er schimpft, er kritisiert. Imke Anders sitzt wie die anderen auf einem harten Holzstuhl in der heißen Mittagssonne. Die Disziplin ist strikt. Der Stuhl darf nicht knarren. Wer austreten muss, hat bis zur Pause zu warten. Öcalan fragt die Deutschen: Was nützt ihr uns? Imke weiß keine Antwort. Als Kämpferin hält sie sich inzwischen für untauglich. Sie kann zwar immer besser Kurdisch sprechen, für die "Agitationsarbeit" in den Dörfern reichen ihre Kenntnisse nicht. Die Vorträge halten andere - über die Ideologie der PKK, über die Ziele der Partei. Die Bauern hören zu, weil Gäste nicht von der Tür gewiesen werden. Weil sie neugierig sind oder Angst haben. Wenn ihre Genossen von diesen Bauern fordern, eine Dorfmiliz gegen das Militär zu gründen, zweifelt Imke am Verstand ihrer Gefährten. Aber sie will sich nicht eingestehen, dass ihr Kurdistan-Einsatz sinnlos ist. Die "Anwesenheit ausländischer Sympathisanten in Kurdistan ist ungeheuer wichtig", erklärt sie noch heute. "Nur so erfährt das kurdische Volk von der weltweiten Unterstützung für seinen Kampf." Als hätte es die eigene Schwäche und die Zweifel nie gegeben. Nach zweieinhalb Jahren wird Imke Anders Antrag auf Rückkehr stattgegeben. Wenige Tage vor dem Abschied aber gerät ihre Einheit in einen Hinterhalt. Neben Imke schlägt eine Granate ein. Betäubt bleibt sie liegen. Als sie aufwacht, ist sie allein. Sie muss ihre Einheit suchen, aber sie kennt die Gegend nicht. Zwei Fladenbrote zerkrümeln in ihrer Tasche. Ein Pferdekadaver liegt nahe der Quelle, aus der sie nach Stunden zum ersten Mal trinkt. Drei Tage ist sie unterwegs. Dann stößt sie auf eine Männereinheit; deren Kommandant hat eine Liste, auf der die Namen der Gefallenen aus Imkes Einheit stehen. Es sind 29. Etwa 30 junge Deutsche sind in den letzten zehn Jahren für eine Zeit lang nach Kurdistan gegangen: Eine von ihnen starb im Kampf, einer kam als Krüppel zurück, zwei sitzen in der Türkei im Gefängnis. Gegen die anderen ermittelt der Verfassungsschutz unter dem Verdacht, dass sie in Deutschland eine neue Terrorgruppe nach dem RAF-Vorbild aufbauen wollen. In Deutschland ist Imke Anders wieder allein. Zu den kurdischen Organisationen ist sie auf Distanz gegangen. Es gäbe zu viele Fraktionen, die Exil-Kurden würden die Bewegung glorifizieren, ihre Ziele seien irreal.