Vom Entwicklungsland zur Regionalmacht: Die Türkei lässt Europa hinter sich
Immer weniger Türken glauben an Europa: nur 38 Prozent wollen, dass ihr Land EU-Mitglied wird. Die Zustimmung ist damit nur noch halb so stark wie vor sechs Jahren, als der Europäische Rat grünes Licht für entsprechende Verhandlungen gab. Das Land fühlt sich inzwischen so stark, dass der Beitritt gar nicht mehr wichtig ist - die EU als Vorbild aber schon.
ANKARA. "Europa ist eine Inspiration für uns", sagt Mehmet Simsek. Der Finanzminister steht für den rasanten Aufstieg des Landes zur Wirtschaftsmacht.
Simsek erzählt die Geschichte gern: wie er mit acht Geschwistern im kurdischen Südostanatolien aufwuchs, dass er, als er in die Schule kam, nur Kurdisch sprach, später dank der Hilfe seiner Brüder Ökonomie studieren konnte, mit einem Stipendium nach England kam, bei Merrill Lynch, später für UBS in New York und die Deutsche Bank in Istanbul arbeitete, bevor ihn Ministerpräsident Tayyip Erdogan 2009 zum Finanzminister berief. "Und all das in einer Generation", wundert sich Simsek noch heute.
"Wir bringen Dynamik in die EU"
Die Karriere des 43-Jährigen
symbolisiert den Aufstieg der Türkei von einem Entwicklungsland zu einer Regionalmacht, die unter den wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt auf Platz 15 liegt. In der EU wäre sie die Nummer sieben. Seit Simsek 1967 zur Welt kam, ist das Pro-Kopf-Einkommen von 466 auf rund 9 000 Dollar gestiegen.
"Unsere Wirtschaft könnte um sieben bis acht Prozent pro Jahr wachsen, wenn wir genügend Kapitalzuflüsse hätten", sagt Simsek, "aber Europa ist schwach". Aus seiner Sicht sind es weniger ökonomische Gründe, die für einen EU-Beitritt sprechen: "Wir wollen den Beitritt wegen der politischen Transformation: Demokratie, Menschenrechte, eine Öffnung der Gesellschaft". Wirtschaftlich werde vor allem die EU profitieren: "Europa braucht uns, wir bringen Dynamik in die EU!"
Eine Reise ins Land untermauert das. Auf die Minute pünktlich verlässt der Express 91017 Ankara. Mit Tempo 250 rast der Zug über die anatolische Hochebene ins 270 Kilometer entfernte Eskisehir. Die Europäische Investitionsbank hat den Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse mit Krediten von 850 Millionen Euro gefördert. Dass die neue Strecke Ankara mit Eskisehir verbindet, ist kein Zufall:
Die Industrie- und Universitätsstadt ist einer der "anatolischen Tiger". Die Analphabetenrate ist mit vier Prozent halb so hoch wie im Landesdurchschnitt, das Pro-Kopf-Einkommen um ein Drittel höher. Hier werden Dieselloks, Straßenbahnen, Triebwerke für F-16-Kampfjets und Komponenten für den Airbus A400 gebaut.
Rund 300 Firmen mit 35 000 Beschäftigten haben sich in der Industriezone angesiedelt. Unternehmen wie Süsler, das zur italienischen Candy-Gruppe gehört. Die 800 Beschäftigten produzieren Candy-Herde und Hoover-Wäschetrockner. "80 Prozent der Produktion gehen in den Export, davon zwei Drittel in die EU", sagt Firmenchef Cemal Dereoglu. Wie die türkische Wirtschaft insgesamt, profitiert auch Süsler von der 1996 mit der EU geschlossenen Zollunion. Was würde sich für sein Unternehmen durch einen EU-Beitritt ändern? "Vermutlich wenig", sagt Dereoglu.
Die Produktivität des Candy-Werks ist höher als in China und Russland. Für Eskisehir sprächen die Qualifikation der Belegschaft, ihre Motivation und der Standort, erklärt Dereoglu: "Industrie ist ein Lifestyle in Eskisehir."
Zu den Standortvorteilen gehört auch die Anadolu-Universität, die größte Hochschule des Landes. 32 Studentinnen und Studenten sitzen im Seminar von Nezih Orhon, der Journalisten ausbildet. "Wer ist für den EU-Beitritt?", fragt er seine Studenten. Nur eine einzige Hand hebt sich.
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