Unangekündigte Antwort auf US-Raketenschild
Thema: US-Raketenabwehr rund um Russland
Test der neuen strategischen Stilet-Rakete
© RIA Novosti. Sergei Kazak
19:12 29/12/2011
von Viktor Litowkin
In den letzten Tagen des ausklingenden Jahres hat die russische Staatsführung ohne jegliches Aufheben eine Reihe von Schritten unternommen, die vor allem für das US- und Nato-Establishment von Bedeutung sind.
Dabei wurde kein Bezug auf den US-Raketenschild genommen, der in der Nähe der russischen Grenzen entstehen soll, wie Militärexperte Viktor Litowkin in der Nesawissimaja Gaseta schreibt. Dennoch zeugen
der Doppel-Start von Bulawa-Interkontinentalraketen, der Test der strategischen Stiletto-Rakete sowie die Ausstattung eines weiteren Raketenregiments mit dem neuen System Jars davon, dass Moskau seine asymmetrische und angemessene Antwort auf die US-Raketenabwehrpläne parat hat.
Von der „asymmetrischen und angemessenen“ und zugleich nicht aufwendigen und dennoch wirksamen Antwort
hatte Präsident Dmitri Medwedew in seiner Fernsehansprache am 23. November gesprochen.
Unter anderem sollen die vorzeitige
Inbetriebnahme der Woronesch-MD-Radaranlage in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad und der verstärkte Schutz der Atomraketen gegen Luftangriffe den geplanten US-Raketenschild an den russischen Grenzen neutralisieren. Zudem sollen in West- und Südrussland Angriffsraketen (z.B. Kurzstreckenraketen des Typs
Iskander-М in Kaliningrad und in der Region Krasnodar), aufgestellt werden, um
bei Bedarf die europäische Raketenabwehr außer Gefecht zu setzen.
Strategische Atomraketen erwähnte Medwedew mit keinem einzigen Wort, schloss jedoch einen Ausstieg Russlands aus
dem Prager START-Vertrag nicht aus.
Einige dieser Maßnahmen sind bereits umgesetzt worden:
Der Radar Woronesch-MD wurde am 1. Dezember, einen Monat vor der Zeit, in Medwedews Beisein in Dienst gestellt. Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow sagte damals nicht ohne Stolz, dass
der Radar mit einer Reichweite von 6000 km ganz Europa und den nordwestlichen Teil des Planeten abtasten und gleichzeitig mindestens 500 Ziele erfassen könne.
Mit der Aufstellung der operativ-taktischen
Iskander-Raketen, die auch mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können, ließ sich Russland vorerst Zeit und testete stattdessen intensiv atomwaffenfähige Interkontinentaltraketen:
Trotz der dicken Eisdecke im Weißen Meer feuerte das strategische Atom-U-Boot Juri Dolgoruki (Projekt 955, Klasse Borej) gleichzeitig zwei Raketen des Typs R-30 Bulawa (RSM-56, Nato-Code SS-NS-30) ab. Der Doppelstart war erfolgreich: Die Gefechtsköpfe der Raketen (zwischen sechs und zehn) gingen planmäßig auf dem Schießplatz Kura auf der Pazifik-Halbinsel Kamtschatka nieder.
Die Bulawa-Rakete soll demnächst bei der Marine den Dienst antreten - und mit ihr auch
das U-Boot Juri Dolgoruki, das
zwölf Bulawas an Bord haben wird. Das zweite U-Boot der Baureihe, die Alexander Newski, das jetzt getestet wird und 2012 der Marine übergegeben werden soll, wird
16 solche Raketen mitführen. Die sechs weiteren U-Boote der Serie, darunter Wladimir Monomach und Swjatitel Nikolai, die bis 2020 gebaut werden sollen, werden mit jeweils
20 Bulawa-Raketen bestückt werden.
Die Bulawa-Rakete, die den Kern der seegestützten russischen Atomwaffen bilden wird, ist nur eine der unangekündigten Antworten auf den US-Raketenschild in Europa. Die zweite, nicht weniger ernstzunehmende Antwort ist die
Ausrüstung eines zweiten Regiments der Raketendivision Tejkowo bei Moskau mit den mobilen strategischen Raketensystemen des Typs RS-24 Jars. Ein erstes Regiment war bereits im März mit diesen Raketen ausgestattet worden. Nunmehr verfügt die Tejkowo-Division über insgesamt zwölf Jars-Raketensysteme.
Bei
Jars handelt es sich im Grunde um eine Modifikation
des strategischen Raketensystems RT-2PM2 (Nato-Code SS-27) Topol-M. Anders als Topol-M
hat die Jars-Rakete jedoch einen Mehrfachsprengkopf, der nach inoffiziellen Angaben aus zwei bis sechs individuell gelenkten Teil-Sprengköpfen besteht.
Jeder von ihnen fliegt nach der Abtrennung von der letzten Raketenstufe mit Hyperschallgeschwindigkeit und manövriert unvoraussagbar. Weder das jetzige Raketenabwehrsystem Aegis SM-3 noch ihre 2020 zu erwartende Weiterentwicklung noch der globale Raketenschild GBI haben gegen diese Gefechtsköpfe eine Chance, wie der russische Raketenkonstrukteur Juri Solomonow bekanntgab.
Darüber hinaus sollen
die bereits veralteten Interkontinentalraketen RS-18 Stiletto (Nato-Code SS-19) in der Division Koselsk (Westrussland) bald den Jars-Systemen Platz machen.
Zukünftig werden die Jars-Raketen alle mobilen Topol-M-Systeme bei Russlands Strategischen Raketentruppen ablösen, wie der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Wadim Kowal, RIA Novosti mitteilte. Parallel dazu sollen die Truppen weitere silogestützte Topol-M-Raketen erhalten.
Darüber hinaus sollen RS-24-Raketen allmählich die veralteten RS-18 und RS-20 Wojewoda (R-36M) ablösen und gemeinsam mit den silogestützten Topol-M-Raketen die Grundlage der landgestützten russischen Atomwaffen bilden.
Auch wenn die Raketen RS-18 Stilet (Sechsfach-Sprengkopf) und R-36M Wojewoda/Satan (Zehnfach-Sprengkopf) schon als veraltet gelten, will sie Russland nicht sofort aus der Hand geben. Ende Dezember wurde auf Baikonur eine Rakete vom Typ UR-100NUTTH mit einem neuen Sprengkopf gezündet. Nach amtlichen Angaben diente der Start dem Zweck, zu prüfen, ob die Raketen dieses Typs noch gefechtsfähig sind und ob deren Dienstdauer um vier auf 36 Jahre verlängert werden kann.
Nach inoffiziellen Angaben wurde dabei jedoch der Sprengkopf getestet, mit dem die Bulawa-Rakete ausgestattet ist und den keiner der existierenden Abwehrsysteme abfangen kann.
Dass dies nicht im Fernsehen gesagt wurde, ist kein Grund, das Erstarken des russischen Atomraketenpotenzials zu übersehen. Dass die Regierung darum kein Aufheben machen will, ist durchaus verständlich: Man will der westlichen Presse keinen Anlass geben, Russland ein nukleares Wettrüsten vorzuwerfen. Diejenigen, die auf die Reaktion des Kremls auf den US-Raketenschild in Europa warten, werden alles auch ohne medienträchtige Erklärungen verstehen.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.
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