2. April 2016
Endlich war es soweit. Die Reise, die uns allen am Herzen lag stand bevor. Die Sonne schien, wir waren schon vor sechs Uhr morgens auf den Beinen. Unsere Tour startet und führt uns zum zentralen ezidischen Heiligtum Lalisch, von dort über Duhok zum Heiligtum Sherfedin am Sinjar-Gebirge, wo Qasim Shesho einen Militärstützpunkt seiner Peshmergatruppe unterhält. Aber dazu später mehr!
Die Fahrt startet um sieben Uhr morgens mit einem Bus, den Hussein, der Verlobte von unserem Mitglied Nurcihan Koc organisiert hat. Während der Fahrt genießen wir fantastische Ausblicke auf die Weite der südkurdischen Hügellandschaft, die ohne Bäume auszukommen scheint. Dafür haben wir einen Super Weitblick!
Lalisch ist der Name für ein Tal, das ca. 60 km nordöstlich von Mossul und 30 km westlich von Dohuk liegt und in dem sich das zentrale Heiligtum der Eziden befindet.
Nach gut zweistündiger Fahrt angekommen in Lalisch ist die erste Handlung: Schuhe und Strümpfe ausziehen! Es geht ab nun barfuß weiter! Wir sind nämlich nun im heiligen Bereich, der ausschließlich barfuß betreten werden darf. Wir nehmen den Pilgerweg, der mit einem Ritual startet. Durch den Torbogen rund 50 Meter bis zu einem heiligen Stein und wieder zurück, insgesamt dreimal. Torbogen und Stein werden dabei jeweils geküsst. Nach dem dritten Mal geht es hinter dem Stein auf einem unebenen, steinigen Weg in einen heiligen Olivenhain. Für uns ungeübte Barfußgeher eine kleine Strapaze, die aber alle tapfer meistern.
Unten empfängt uns der höchste Tempelwächter im Lalisch, Bavê Çavîs, und führt uns in das Innere des Heiligtums. Hier liegt die Grabstätte von Scheich Adi ibn Musafir, über der sich die große Kuppel erhebt, die man schon von weitem sieht. Vor dem Portal stehen die drei Weisen. Wir gehen durch das Portal in die Grabstätte hinein, wobei hier wichtig ist, dass man die Schwelle des Eingangs, eine kleine Stufe, nicht berühren darf. Im Inneren fallen uns die bunten Tücher auf, die den Sarkophag und die Säulen bedecken. Hier umrunden wir gemeinsam mit dem Oberhaupt, der einen religiösen Gesang startet, dreimal den Sarkophag. Wer möchte, darf danach blind ein Tuch auf einen steinernen Absatz werfen. Bleibt das Tuch liegen, darf er sich etwas wünschen! Und nur den Eziden selbst, in unserem Falle nur Zemfira und Seleman, ist es vorbehalten, nach unten zur heiligen Quelle (Weisse Quelle, auf kurd. Kaniya Spi) klettern zu dürfen! Zemfira war selbst zum ersten Mal dort, dieser Moment war für sie besonders ergreifend. Unten angekommen fühlte sie sich sehr wohl, später erzählte sie, dass es sich für sie sehr spirituell aber auch fast märchenhaft anfühlte.
Danach sind wir eingeladen, gemeinsam mit dem einzigen ezidischen Abgeordneten sowie dem mit der Aufklärung des Genozids an den Eziden 2014 Beauftragten zu diskutieren. Wir erfahren, dass die Gräueltaten des IS von 2014 mit vielen medialen Beweisen und Aussagen belegt sind, es aber trotzdem schwierig ist, eine internationale Verurteilung und Anerkennung als Genozid zu erhalten. Das liegt u.a. daran, dass der Staat Irak das internationale Abkommen über den Internationalen Gerichtshof nicht unterzeichnet hat, andererseits Südkurdistan keine Völkerrechtssubjektivität zugemessen wird. Daniela, die sich im Völkerrecht gut auskennt, wirft ein, es komme auch ein Strafverfahren vor einem nationalen deutschen Gericht in Frage. Dies scheint aber nicht dem Wunsch einer internationalen Anerkennung zu entsprechen. Anschließend sind wir noch zu einem hervorragenden kurdischen Mittagsessen eingeladen, wobei es das erste Mal ist, dass wir an einem großen Tisch im Stehen essen. Und natürlich gibt es zum Abschied verschiedene Gruppenfotos mit dem ezidischen Oberhaupt Baba Shewish und seinen Gästen.
Nun geht es nicht mehr mit unserem Bus weiter, ab jetzt werden wir in militärische Pick-ups verladen, denn auf der Fahrt nach Sherfedin verlassen wir den Kernbereich von Südkurdistan. Der Bereich rund um das Sindjar-Gebirge, Ninive genannt, ist erst seit einigen Wochen vom IS befreit und die Fahrt daher immer noch nicht ungefährlich. Während wir vorne im Pick-up sitzen, liegen auf der Ladefläche hinten zwei bis drei Peschmerga-Soldaten mit Kalaschnikow und Maschinengewehr. Die Waffe unseres Fahrers liegt bei mir im Fußraum des Beifahrersitzes, ein amerikanisches M 16 Schnellfeuergewehr. Unser Fahrer ist übrigens der Sohn eines Peschmergakommandeurs und er lebt eigentlich in der Nähe von Hannover, wo die Familie ein Restaurant betreibt. Für uns von Vorteil, weil wir uns auf Deutsch mit ihm unterhalten können. Eigentlich wollen wir beim Flüchtlingscamp Bajed Kandala außerhalb Dohuks anhalten, weil wir aber aus Sicherheitsgründen vor Einbruch der Dunkelheit in Sherfedin ankommen wollen, müssen wir die Besichtigung auf unsere Rückkehr verlegen.
Fast an der Grenze zu Syrien überqueren wir auf der einzigen Brücke den Tigris, der hier die Breite eines normalen deutschen Flusses hat, aber weiter südlich zum Mossul-Staudamm aufgestaut wird. Danach sehen wir immer wieder Zeichen der Kampfhandlungen, die bis vor wenigen Wochen stattgefunden haben, zerstörte Häuser, zerstörte Tankstellen, je dichter wir an das Sinjar-Gebirge kommen, umso häufiger.
Noch bei Tageslicht und bei Sonnenschein erreichen wir den Stützunkt bei Sherfedin. Wir werden schon erwartet und nehmen im Garten vor dem Gebäude auf roten Stühlen mit roten Tischen Platz, passend zum roten Pulli von Kahraman. Es gibt wieder Tee und Wasser und wir kommen ins Gespräch. Wir sind Gast bei Qasim Shesho. Qasim ist mittlerweile eine Berühmtheit, denn er war es im August 2014 mit wenigen Getreuen, die den Widerstand gegen den IS organisiert haben. Heute kommandiert er eine Peschmergatruppe von 11.000 Soldaten, aber 2014 waren es gerade mal ein Dutzend. Es war die Situation, als die Peschmerga, die diesen Teil des Landes sicherten, sich vor dem Angriff des IS zurückzogen, was übrigens nicht nur die Eziden, sondern auch die Christen um Alqosh betroffen hat. In der deutschen Presse ist reichlich über ihn als "Löwe von Sinjar" berichtet worden und selbst Fernsehmoderator Reinhold Beckmann hat ihn besucht.
Qasim hatte noch im Juli 2014 die Bürgerwehr gegründet und war mit seinen Truppen im Oktober 2014 mit 7.000 ezidischen Flüchtlingen im Sinjar-Gebirge eingekesselt. Er konnte nur noch die Gegend um Sherfedin gegen eine Übermacht bestens ausgerüsteter IS-Angreifer verteidigen. Die Peschmerga-Offensive im November 2014 löste dann die Einkesselung. Erst ein Jahr später, im Dezember 2015, wurde mit der "Operation Free Shingal" der IS aus dem Großteil der Ninive Ebene vertrieben.
Es wundert daher nicht, dass der Mann, der zwischen 1998 und 2003 in Bad Oeynhausen als Gärtner lebte, hier große Bewunderung erfährt. In jeder Armee der Welt ist es üblich, dass die Soldaten sich erheben, wenn ein General den Raum betritt. Aber wir merken: Hier kommt auch noch tiefer Respekt und Dank für die außergewöhnliche Leistung und Einsatzbereitschaft des über 60-jährigen hinzu.
Der zweite Held ist sein Neffe Heydar Shesho. Auch er ist zugegen. Er ist Begründer der über 3.000 Mann starken Hêza Parastina Êzîdxan, deutsch etwa Verteidigungskraft Êzîdxan. Onkel und Neffe zusammen organisierten die Abwehr gegen den IS im Sommer 2014. Er hat in Deutschland Politik studiert und steht für die ezidische Sache mit Leib und Leben.
Im Gespräch mit beiden wird allerdings deutlich, dass sie das Peschmergaverhalten im Sommer 2014 je unterschiedlich werten. Qasim, der Onkel, stand vom 03.08.2014 bis zum 17.12.2014 als private Person an der Front und kämpfte mit Heydar, seinem Neffen, sowie einigen weiteren Verwandten mit primitiven Waffen gegen den IS. Sie schafften den IS erfolgreich zurück zu drängen. Als am 18.12.2014 die Hilfe der kurdischen Regierung zugegen war, bekannte sich Qasim Shesho wieder zu seiner Partei und arbeitet seither eng mit der kurdischen Regierung um Präsident Barzani. Heydar hingegen blieb der Auffassung, dass in den Gebieten, wo mehrheitlich Eziden leben, insbesondere um die Heiligen Stätte Lalisch und Sherfedin von ezidischen Einheiten geschützt werden müssen. Er führt seine HPE mit über 3000 Mann weiter, bis der IS enggültig besiegt ist.
Starke Männer, die sich nicht scheuen die Meinung zu sagen und gleichwohl spürt man zwischen Ihnen starke gegenseitige Akzeptanz und Respekt. Zwei Männer, die uns beeindruckt haben.
Abends sitzen wir dann noch im Haus zusammen. Zur Feier des Tages stellt Qasim irgendwann seinen Whisky auf den Tisch. Gegessen und geschlafen wurde übrigens geschlechtergetrennt: Während unsere Damen im ersten Stock, wo auch die Ehefrau von Qasim wohnt, versorgt wurden, haben wir im Mannschaftssaal unten wieder im Stehen gegessen und anschließend auf Matratzen mit den Peschmergas auf dem Boden geschlafen.
Für die Gastfreundschaft von Qasim Shesho möchten wir uns auch auf diesem Wege außerordentlich bedanken und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen.
Michael Gehlert, Safiye Yüksek-Bicer, Zemfira Dlovani