Zwei nationalistische Lügen über Gavrilo Princip haben sich in den Köpfen der Menschen eingenistet:
- serbische Nationalisten und ihre Kirche haben ihn zum serbischen Märtyrer und Nationalisten erhoben (vidovdanski heroj)
- bosniakische, kroatische und albanische Nationalisten sehen in ihm ebenfalls einen serbischen Nationalisten, aber halt Terroristen
Die Wahrheit sieht natürlich ganz anders aus. Wer 100 Jahre nach dem Attentat und nachfolgendem Ersten Weltkrieg immer noch glaubt, ein armer Schlucker aus Bosnien wäre dessen Auslöser, verdient keinerlei Aufmerksamkeit in dieser Diskussion. Die Ursachen für den Ersten Weltkrieg liegen in der Rivalität der führenden Mächte Europas. Es war ein imperialistischer Krieg, zu dem es auch ohne Gavrilo Princips Schuss gekommen wäre, vielleicht mit einer Verzögerung von ein paar Wochen. Das Attentat in Sarajevo wurde nur als Vorwand benutzt, um endlich "loszulegen". Vor allem das Deutsche Reich hatte es in dieser Hinsicht eilig. Es konnte sich nicht gegen England und Frankreich als Kolonialmacht in Übersee durchsetzen und versuchte deshalb in Europa seine Vormachtstellung zu etablieren. Da sich Deutschlands Wirtschaftsinteressen mit denen Österreichs deckten, betrieb es seine aggressive Expansionspolitik in Richtung Balkan. Für die Völker Balkans war aus Sicht Deutschlands und Österreichs die Rolle auszubeutender Untertanen vorgesehen. Die Welt sollte "am deutschen Wesen genesen" oder "der Drang nach Osten" vorangetrieben werden. Alles für den deutschen "Platz an der Sonne". Gavrilo Princip und sein Kreis waren offensichtlich anderer Meinung.
Doch was waren Gavrilo Princips Ziele? Bestimmt keine großserbischen. Er selbst hat sich nie als Serben gesehen, sondern als Jugoslawen. Über das serbische Bürgertum in Sarajevo (bestehend aus Großhändlern und Landbesitzern) und die Serbisch-Orthodoxe Kirche sagte Princip, er würde sie "wie eine Streichholzschachtel abfackeln". Klerikalismus, auch den der orthodoxen Kirche, verglich er mit Syphilis. Die ideologische Vereinnahmung Gavrilo Princips durch die Serbisch-Orthodoxe Kirche ist auch deshalb absurd, weil er sich bei seinem Prozess klar und deutlich als Atheist deklariert hat. Laut eigener Aussage wollte er nicht nur den Thronfolger Franz Ferdinand und seinen Landeschef in Bosnien-Herzegowina, Oscar Potiorek, erschießen, sondern auch den Metropoliten von Sarajevo, Evgenije Letica und ein paar andere serbische Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Wirtschaft, die, genau wie heute, allesamt verwoben waren.
Princip war kein Nationalist, obwohl er sich als jugoslawischen Nationalisten bezeichnet hat. Aber dieser Nationalismus hat sich sehr von den klerikal-völkischen Nationalismen der Serben oder Kroaten unterschieden. Die Jugoslawisten bestrebten eine Vereinigung aller Völker des südslawischen Balkan. Alte, von fremden Mächten aufgezwungene kulturelle Unterschiede sollten überwunden oder aus diesen Unterschieden etwas Neues erschaffen werden. Gavrilo Princip und seine engsten Mitstreiter orientierten sich an revolutionärer Literatur. So lasen sie auch das Manifest der Kommunistischen Partei. Gehandelt haben sie aber eher wie Anarchisten. Anschläge auf Aristokraten waren damals nicht unüblich. Man bedenke nur den Anschlag auf Sissi. Auch hier war der Täter ein Anarchist, der Italiener Luigi Lucheni.
Aus Sicht Princips war Franz Ferdinand ein fremder Besatzer, der in seiner Heimat nichts zu suchen hatte. Alle Völker der Monarchie kämpften für ihre Unabhängigkeit und Emanzipation, also auch die Südslawen. Mordanschläge gegen hochrangige Politiker waren damals sehr verbreitet und wurden als legitime Mittel gegen Fremdbestimmung angesehen, ganz egal wie unzivilisiert uns das heute vorkommt, obwohl wir nicht gerade in zivilisierten Zeiten leben. Wir stehen mittlerweile vor dem nächsten Weltkrieg. Der Weltfrieden wird, genau wie damals, durch Gier, die aggressive Erschließung neuer Märkte und endlose Aufrüstung gefährdet.
Eine Randnotiz zum Abschluss: Franz Ferdinands Gemahlin Sophie war im Plan Princips nicht vorgesehen. Die Kugel, von der sie getötet wurde, galt eigentlich Oscar Potiorek. Das hat er bei seinem Prozess immer wieder betont. Und schwanger war sie auch nicht, denn sie konnte seit ihrer Fehlgeburt im Jahre 1908 keine Kinder mehr gebären.