Im Krebsgang Richtung Europa
EU-Kommissions- präsident Barroso in Istanbul - Hoffnung bei einem Teil der Bevölkerung - Andere protestieren: "Die EU versteht die innertürkische Debatte nicht"
Die kemalistische Opposition protestierte am Samstag dagegen, dass EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor seinem Türkei-Besuch das Verbotsverfahren gegen die AK-Partei kritisiert hatte.* * *Der Besuch endete mit einem Versprechen. „Die EU“, so Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Samstag vor seinem Rückflug nach Brüssel, „hält an der Beitrittsperspektive für die Türkei fest.“ Die türkische Regierung solle deshalb an ihr früheres Reformtempo wiederanknüpfen. Die dreitägige Visite von José Manuel Barroso, gemeinsam mit dem für die Erweiterung zuständigen Kommissar Olli Rehn, hat tatsächlich bei einem Teil der türkischen Bevölkerung die Hoffnung geweckt, das zumindestens die EU-Kommission sich wieder stärker für eine EU-Perspektive des Landes einsetzen wird.
Massendemo gegen die AKP
Im Gegenzug hat sich aber bei einem anderen Teil die EU-Skepsis durch den Besuch eher verstärkt. Denn bei der derzeit herrschenden innenpolitischen Auseinandersetzung wurden die Erklärungen des Kommissionspräsidenten als eindeutige Stellungnahme für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und gegen das laizistische Lager gewertet. Noch am Samstag gingen in Ankara rund 25.000 Menschen für den Erhalt der laizistischen Republik auf die Straße und drückten damit ihre Unterstützung für das laufende Verbotsverfahren gegen die AKP und ihre Empörung über Barroso aus.
Die eindeutige Kritik von Barroso an der Eröffnung eines Verbotsverfahrens gegen die AKP hat nicht nur die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und deren Vorsitzenden Deniz Baykal verbittert, sondern auch einen Teil der Liberalen, die einen EU-Beitritt der Türkei immer unterstützt haben, irritiert. Mehmet Ali Birand, „einer der publizistischen Wortführers des Pro-EU-Lagers“, stellte nach dem Besuch fest: „Die EU versteht die innertürkische Debatte nicht.“ Die Versicherung von Barroso, aus Sicht der EU müsse die Türkei demokratisch und säkular sein, reicht seiner Meinung nach nicht aus. Die EU müsse das säkulare System der Türkei auch wirklich unterstützen, sonst werde die Versicherung Barrosos, dass ein EU-Beitritt der beste Schutz gegen drohenden Islamismus sei, nicht mehr geglaubt.
Insgesamt sind sich alle Kommentatoren einig, dass das wiedererwachte Interesse der AKP-Regierung an dem Beitrittsprozess eine direkte Reaktion auf das Verbotsverfahren ist. Deshalb sind auch die wenigsten davon überzeugt, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Präsident Abdullah Gül wirklich bereit sind, erneut substanzielle Reformen in Angriff zu nehmen. Wichtigster Prüfstein für die EU-Kommission bleibt die Meinungsfreiheit, die Umsetzung des Ankara-Protokolls auch für Zypern und die Religionsfreiheit für Nichtmuslime.
Besuch beim Patriarchen
Deshalb hat Manuel Barroso nach seinen Gesprächen in Ankara am Freitag auch demonstrativ den Patriarchen der griechisch-orthodoxen Kirche, Bartholomäus I., besucht. Das griechische Patriarchat unterstützt zwar grundsätzlich einen EU-Beitritt der Türkei, ist aber zunehmend frustriert, dass die versprochenen Verbesserungen für die christlichen Minderheiten immer noch auf sich warten lassen. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz, mit dem die Rückgabe in der Vergangenheit beschlagnahmter kirchlicher Immobilien geregelt werden soll, ist von der Opposition vor das Verfassungsgericht gebracht worden und wird derzeit geprüft. Ein Rechtsstatus für die katholische oder evangelische Kirche steht dagegen immer noch aus.
Konkrete Hoffnung gibt es eigentlich nur im Zypernkonflikt. Kommt es bei den Verhandlungen zwischen den griechischen und türkischen Zyprern zu Fortschritten, wäre für Erdogan die Öffnung der türkischen Häfen für die Zyperngriechen möglich und damit eines der größten Hindernisse in den Beitrittsverhandlungen beseitigt. Bislang weigert sich die Türkei, ihre See- und Flughäfen für Waren aus der Republik Zypern zu öffnen.